Als de Camargo das Stadion erbeben ließ
Das Tor des Brasilianers im Relegationsspiel gegen Bochum war der emotionalste Moment im Borussia-Park. Zuvor gab es ein wichtiges Tor von Roberto Colautti, das zur Mythenbildung taugt. So ist es auch mit der Choreographie der Fans gegen Kiew.
FUSSBALL Es ist nicht leicht, einen Mythos mitzunehmen. Denn ein Mythos entsteht in der Zeit, dazu braucht es mehr als nur einen symbolischen Akt wie den Fanmarsch, mit dem die Borussen-Fans am 31. Juli 2004 vom Bökelberg in den neuen Borussia-Park umzogen. Der Bökelberg, der Jahrzehnte lang die Heimat der Borussen war, war ein steinernes Symbol für Titel, Triumphe und Tränen, die Gladbach dort gewann, feierte und vergoss. Beim Ortswechsel wurde der Gedanke mitgenommen, doch das echte Gefühl, das war allenfalls hinterlegt.
Es musste noch mit prallem Leben gefüllt werden. Der BorussiaPark war nach damals, im Juli 2004, zwar die neue Heimat der Borussen. Doch brauchte es besondere Momente, um ein mystischer Ort zu werden. Momente, die sich unauslöschlich in die Erinnerung einbrennen und im historischen Kontext von großer Bedeutung sind.
Der erste ganz große emotionale Moment, den das Stadion erlebte, war ein Tor, das den dritten Sturz in die Finsternis der Zweitklassigkeit verhinderte. Borussia spielte am 10. Mai 2009 gegen Schalke 04. Hans Meyer war zuvor als Abstiegsverhinderer geholt worden, nachdem alles schief gegangen war in dieser Saison. Aufstiegstrainer Jos Luhukay war gescheitert, Christian Ziege nur ein Trainer für ein Spiel. Meyer, der Borussia nach dem ersten Abstieg wieder erstklassig gemacht hatte, brachte das Team, das in der Hinrunde nur elf Punkte erobert hatte, an die Schwelle zur Rettung.
Nun stand es 0:0 gegen Schalke 04, das Spiel war fast vorbei. Da rannte Oliver Neuville auf der rechten Seite los und passte den Ball in den Strafraum. Da stand der Israeli Roberto Colautti und schoss den Ball zum 1:0 hinein ins Netz. Radioreporter Andreas Küppers brüllte mit sich überschlagender Stimme in sein Mikrofon, seine Reportage hat Kultstatus bei Borussias Fans. Das Stadion barst schier vor Freude. Borussia verließ die Abstiegsrängees war ein wesentlicher Schritt hin zur Rettung. Als Dante, der in der Winterpause als Abwehrstabilisatorgekommen war, im nächsten Spiel in Cottbus wieder einen Last-Minute1:0-Sieg sicherstellte, war klar: Borussia bleibt Bundesligist.
Wie Colautti war auch Igor de Camargo eigentlich einer, von dem mehr erwartet worden war bei Borussia. Doch der Brasilianer hatte das Talent für wichtige Tore. Am 19. Mai 2011 schoss er eines der wohl wichtigsten der Vereinsgeschichte. Wieder hatte Borussia eine katastrophale Hinrunde gespielt (zehn Punkte), wieder gab es einen Trainerwechsel, Lucien Favre löste Michael Frontzeck ab. Wieder führte der neue Coach Borussia an die Schwelle des Glücks, dieses Mal jedoch mit spielerischen Mitteln und nicht, wie bei Meyer, mit Mauerkunst. Nun war es die Relegation: Im letzten Spiel in Hamburg buchte Gladbach Platz 16 mit einem 1:1. Gegner in den beiden Abstiegsendspielen war der Zweitliga-Dritte VfL Bochum.
Wieder stand es 0:0, als das Spiel fast vorbei war, die Nachspielzeit war schon abgelaufen. Dann bugsierte de Camargo den Ball mit einem seltsamen Volleyschuss ins Bochumer Tor. Der Borussia-Park erbebte, er explodierte, alles war vergessen: die miese Hinrunde, die Angst, all die Querelen. Die Fans, die Mannschaft, der Klubs, alles wuchs in dieser Sekunde zusammen. Es war der Moment, in dem dieses Stadion seinen eigenen Mythos bekam. De Camargos 1:0, das die Fans zum größten Tor, das je im Borussia-Park erzielt wurde, wählten, war das Erweckungserlebnis. Mit einem 1:1 in Bochum machten die Borussen den Verbleib in der Bundesliga perfekt.
Zwei Tore, die so viele Emotionen freisetzten, zwei Tore, ohne die der dritte ganz große emotionale Moment wohl nie möglich geworden wäre: Am 21. August 2012 ertönte im Borussia-Park zum ersten Mal die Hymne der Champions League. Der Fast-Absteiger der Vorsaison hatte sich mit tollem Fußball in die Playoffs für die Meisterliga gespielt, sie kehrte nach 16 Jahren Abwesenheit zurück in den Europapokal. Borussias Fans meldeten sich mit einer großartigen Choreographie zurück in Europa. Info: Am 31. Juli 2004 zog Borussia in den Borussia-Park ein. Es ist viel passiert in den zehn Jahren, es war eine aufregende Dekade zwischen Zweiter Liga und Champions League. Dies ist der letzte Teil der Serie „Zehn Jahre Borussia-Park“, in der die RP die ersten zehn Jahre des Stadions in loser Reihenfolge Revue passieren ließ.