Die Diamanten von Nizza
Die Dame war fürs Fahren verantwortlich; alles, was flüssig war, fiel dagegen in den Zuständigkeitsbereich des Ehemanns, der seine Aufgabe sehr ernst nahm, seiner leuchtend roten Nase nach zu urteilen.
„Jetzt kaufe ich“, sagte Sam. „Geld spielt keine Rolle. Eine Runde
für uns alle.“Der Wein wurde in kleinen, dickwandigen Trinkgläsern kredenzt. Er offenbarte am Gaumen eine leicht würzige Note und überzeugte mit beerigen Aromen von roten Früchten.
„Trinken wir auf unseren lieben Alphonse, der mich irgendwann in naher Zukunft in eine Küchendiva verwandeln wird“, sagte Elena. „Vielen Dank für diesen wunderbaren Vormittag.“
„Es war mir ein Vergnügen, meine Liebe. Haben Sie noch Fragen?“
Sam hob die Hand. „Was gibt es zum Mittagessen?“
Jacques räumte die Sportzeitschriften in den Wandschrank. Unten schlug die Haustür zu, er erkannte an den Geräuschen, dass Ettore Castellaci das Haus verließ. Der Sommelier schaute auf die Uhr: 10.45 Uhr. In einer Viertelstunde würde die Signora bei ihm anklopfen. Er holte die Dose mit dem weißen Pulver hervor und geriet ins Nachsinnen. Wann hatte das alles angefangen?
Als er vor sechs Jahren hier seine Stelle angetreten hatte, war alles ganz normal gewesen, oder doch ähnlich, wie er es von seinen beiden vorherigen Jobs kannte. Die Eheleute stritten häufig miteinander, sehr lautstark, aber rauften sich immer wieder zusammen. Und Marcella Castellaci hatte oft Besuch von ihrer Schwester aus Mailand erhalten.
supérieure rosé
Manchmal musste oder durfte Jacques die beiden Damen begleiten, wenn sie nachmittags in den Babazouk gingen, das italienische Viertel am Fuße des Schlossbergs, und in den verwinkelten Gassen italienische Produkte einkauften, um sich anschließend in einem Café bei einem Cappuccino gegenseitig zu versichern, dass Nizza doch eigentlich zu Italien gehörte, war die Stadt doch überhaupt erst im Jahre 1860 französisch geworden war; hier war der Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi zur Welt gekommen, hier war der Teufelsgeiger Paganini gestorben, in einem Haus in der Rue de la Préfecture. Manchmal trug Jacques den beiden aufgedreht schwatzenden Italienerinnen auch die Taschen, wenn sie morgens auf dem Blumenmarkt auf der Cours Saleya mehr Pflanzen einkauften, als sie überhaupt im Hause sinnvoll unterbringen konnten. Zwei, drei Mal begleitete er die Schwestern die Strandpromenade entlang, den Quai des Etats-Uni, an dessen östlichen Ende ein Aufzug den knapp hundert Meter hohen Schlossberg hinauffuhr. Dort standen sie zwischen den Resten einer Zitadelle und zweier mittelalterlicher Kirchen und genossen den Blick auf den Hafen, bevor sie wieder eine Treppe hinunter zur Strandpromenade spazierten, an dem massigen BellandaTurm vorbei. Doch dann war Marcellas Schwester gestorben, Hautkrebs, viel zu spät diagnostiziert, ein Siechtum von wenigen Wochen. Die Hausherrin hatte viel geweint, ihr Schluchzen war bis in seine Kammer hinauf zu hören gewesen. Sie wurde immer reizbarer. Einmal hatte Jacques sie, ohne dies im Geringsten beabsichtigt zu haben, beschämt, als er in den Salon genau in dem Moment eintrat, als sie Ettore leise, aber mit einem furchtbaren Zorn daran erinnerte, dass er ihre Kinderlosigkeit zu verantworten habe, weil er ein ganzes Jahrzehnt lang immer jeden Gedanken daran mit dem Hinweis auf seine „vermaledeiten Linguine“abgewehrt habe, und als er endlich nachgegeben habe, sei es zu spät gewesen. Anders als Ettore, der wenn er wütend war, schrie, dass die Wände wackelten, sprach die Signora besonders leise, wenn sie vom Zorn gepackt wurde. Noch peinlicher war es ihr zweifellos gewesen, als Jacques sie völlig in Tränen aufgelöst in der Küche angetroffen hatte. Er achtete darauf, ihr weiterhin respektvoll zu begegnen, sich in keiner Hinsicht anmerken zu lassen, dass er Zeuge ihrer seelischen Verarmung und ihrer Verzweiflung geworden war. Das rechnete sie ihm hoch an, wie er wohl spürte. Ihr Umgang wurde immer vertrauter. Sie lud ihn öfter zum Kaffeetrinken ein und erzählte von ihrem früheren unbeschwerten Leben in Italien. Als sie zwanzig gewesen war, hatte sie sich in einen Gigolo verliebt, der „bestaussehende und charmanteste Mann aller Zeiten“, auch wenn er von einer Rauferei eine Narbe auf der Wange davongetragen hatte“. Nach etwas über einem Jahr ließ er sie sitzen, wie alle vor und nach ihr auch, trotzdem habe sie jede Sekunde mit ihm wie im Rausch genossen. Sie sprach von ihrer Flucht in eine Vernunftehe, die ihr wenig Wärme und Liebe, aber materiellen Überfluss verhieß, ein Fehler, wie sie zugab, zu dem sie aber stand, und den man nicht einfach auslöschen könne, den sie nun zu Ende leben müsse. Sie erkundigte sich nach seinem vorherigen Leben. Aber Jacques war es seit Jahren gewohnt, alles in sich hineinzufressen. Er gab nur Äußerliches preis. Dass seine Eltern in den Dreißigerjahren hierhergekommen waren, als Kinder, mit ihren Eltern. Dass seine Schwester heute in Amerika lebte und sein jüngerer Bruder gestorben war. Er bekannte ihr seine Leidenschaft für den Rugbysport, den er ein paar Jahre lang aktiv auf gehobenem Amateurniveau ausgeübt hatte. Die Einsamkeit bewirkte die Anziehung. Es geschah, was geschehen musste, eines Tages verführte sie ihn, und obwohl sich ihre geschlechtliche Vereinigung eher mühsam vollzog, wiederholte sich dieses Treffen zur wechselseitigen Triebabfuhr in regelmäßigen Abständen.
Ja, und dann war es geschehen. Vor drei Jahren, als Jacques blockiert war und die Erwartungen der Signora nicht recht befriedigen konnte und sie ihn fragte, was denn los sei, da brach es aus ihm heraus. Offenbar hatte er doch das Bedürfnis sein Geheimnis mit einem Menschen zu teilen, offenbar hatte die Offenherzigkeit der Signora, die nach und nach ihr ganzes Leben mit allen schönen und unschönen Details wie ein Handtuch vor ihm ausgerollt hatte, in ihm das Bedürfnis geweckt, Farbe zu bekennen.
„Ich brauche Koks, um in Fahrt zu kommen und Spaß daran zu haben.“
Signora Castellacis Mund stand so weit offen wie ein Scheunentor vor der Ausfahrt des Traktors, und das für einen endlos scheinenden Augenblick.
„Sie meinen Kokain?“Sie siezten sich nach wie vor, beide hatten daran festgehalten, ohne es je zu thematisieren, weil ihnen immer klar gewesen war, dass ihre Affäre sonst noch schneller aufflöge.
(Fortsetzung folgt)