Ehepaar klagt gegen Apotheker
Einem Bottroper Apotheker wird vorgeworfen, in bis zu 40.000 Fällen Infusionen für Krebskranke verdünnt zu haben. Auch Angelika Fischer ist betroffen. Ihr Mann Hans-Jürgen verlangt Aufklärung und hat Strafanzeige erstattet.
DORSTEN Am 29. November 2016 durchsuchte die Kripo Recklinghausen die Geschäfts- und Privaträume des Apothekers Franz K. (46, Name geändert), seit diesem Tag sitzt er in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, in bis zu 40.000 Fällen Infusionen für schwer Krebskranke bewusst verdünnt zu haben – um mit der Differenz zwischen der Menge der angeblich und tatsächlich verkauften Wirkstoffe etwa 2,5 Millionen Euro zu verdienen. Zu den Vorwürfen schweigt er beharrlich. In den nächsten Tagen wird entschieden, ob der Apotheker weiter in Untersuchungshaft bleibt. Auf die Ermittlungen hat das keinen Einfluss. Laut Michael Schmitz von der Apothekerkammer WestfalenLippe hat das zuständige Gesundheitsamt zudem verfügt, dass die Zulassung des Apothekers bis auf weiteres ruht.
Sabrina Diehl, Anwältin für Medizinrecht, macht das wütend. „Mein Eindruck ist: Die Staatsanwälte trauen sich an den größten Teil des Skandals, also den medizinischen, überhaupt nicht ran, sondern konzentrieren sich auf den Betrug an den Krankenkassen. Das ist für mich ein falsches Signal.“Diehl vertritt mehrere Mandanten, bei denen sich der Krebs plötzlich wieder ausgebreitet hat, anstatt wie erwartet zurückzugehen. „Offenbar wegen gepanschter Medikamente“, sagt sie. Dies habe sich nach dem Wechsel der Apotheke gezeigt, weil die Blutwerte der Patienten sofort besser geworden seien. „Zu diesem Zeitpunkt hatten sie aber bereits wertvolle Lebenszeit verloren.“
Weil er bei der Aufdeckung dieses Skandals keine Fortschritte sieht, wendet sich nun Hans-Jürgen Fischer aus Dorsten an die Öffentlichkeit. Der 65-jährige Bankkaufmann wird an Krebs sterben, ebenso wie seine Frau Angelika (62), Industriekauffrau. Sie werden zwei Kinder hinterlassen. „Das ist unser Schicksal, das nehmen wir hin“, sagt Fischer ruhig. Mit gepanschten Medikamenten aber kann und will er sich nicht abfinden.
Wie haben Sie reagiert, als Sie von der Durchsuchung der Apotheke hörten?
HANS-JÜRGEN FISCHER Als wir vor einem halben Jahr aus der Zeitung davon erfahren haben, waren meine Frau und ich gleich mehrfach geschockt: Erstens natürlich von dieser Tat selbst, die dem Apotheker meiner Frau vorgeworfen wird. Zweitens leidet dieser Mann keine wirtschaftliche Not, ganz im Gegenteil, er ist millionenschwer und lässt sich gern als Wohltäter feiern. Drittens hat sich herausgestellt, dass es noch ewig so hätte weitergehen können, denn individuell gemischte Medizin wie eben für Krebspatienten unterliegt praktisch keinen Kontrollen. Und viertens dachte bei der Staatsanwaltschaft zunächst überhaupt niemand daran, wegen Körperverletzung oder gar Körperverletzung mit Todesfolge gegen diesen Mann zu ermitteln. Der Vorwurf lautete bloß: Verstoß gegen die Hygienerichtlinien und das Arzneimittelgesetz. Das fand ich ein starkes Stück. Ersteres ist nur eine Ordnungswidrigkeit, Letzteres eine Straftat auf dem Niveau von ein bisschen Steuerhinterziehung.
Körperverletzungen bei Schwerstkranken nach Jahren nachzuweisen, ist auch extrem schwer.
FISCHER Selbstverständlich ist es das. Und wenn man nicht genug Beweise finden sollte, um diesen Vorwurf in einem Strafprozess aufrechtzuerhalten, dann wäre es wohl so. Aber versuchen muss man es doch unbedingt. Jeder muss verstehen, was hier im Raum steht. Fach- ärzte vom Westdeutschen Tumorzentrum der Universität Essen haben mir bestätigt, was auch der Laie vermuten würde: Die Verabreichung verdünnter Krebsmedikamente ist höchst gefährlich.
Sie sind ganz konkret betroffen.
FISCHER Noch lebe ich, aber die Ärzte hatten mir schon vor fast drei Jahren prophezeit, dass ich Weihnachten 2014 nicht mehr erleben würde. Ein Weichteilkrebs hat mich befallen, meine Lunge ist voller Metastasen, dazu Wirbelsäule, Leber, Darm und seit Neuestem auch die Rippen. Meine Medikamente hat S. nicht gemischt, aber die für meine Frau sehr wohl. Sie lebt seit 2006 mit Knochenmarkkrebs. Ich werde die Vermutung nicht los, dass er ihr Lebenszeit gestohlen hat – und wer weiß, wie vielen anderen. Die Medikamente werden für jeden Patienten individuell dosiert, je nach Gewicht, Größe und Hautoberfläche. Dieser Apotheker soll die Dosen absichtlich verringert haben. Das macht mich unheimlich wütend. Egal, wie viel Zeit mir noch vergönnt ist: Ich möchte mehr sein als nur ein Kos- tenfaktor für die Krankenkassen, ich will etwas Sinnvolles auf den Weg bringen. Es liegt mir fern, auf die Tränendrüse zu drücken. Es geht mir um die Sache: Je mehr Betroffene und Hinterbliebene sich melden und den Ermittlern Einblick in ihre Patientenakten geben, desto mehr steigen die Erfolgsaussichten für eine Verurteilung.
Wie haben Sie selbst reagiert?
FISCHER Man darf sich als Bürger nicht immer nur beschweren. Meine Frau und ich sind aktiv geworden, haben uns einen Anwalt genommen und Strafanzeige gegen den Apotheker gestellt wegen Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge. Nun ist die Staatsanwaltschaft erstens verpflichtet, dem nachzugehen. Außerdem könnte sie ein mögliches Verfahren nicht gegen Zahlung einer Geldbuße einstellen. Dem müssten wir als Nebenkläger nämlich zustimmen. Und Sie können sich denken, dass uns das fern liegt. Wir wollen, dass dieser Mann seine gerechte Strafe bekommt.
Wie definieren Sie „gerecht“?
FISCHER Ich bin kein Jurist. Aber wenn dieser Mann mit den Ermittlern kooperieren würde, dabei helfen, den Schaden zu begrenzen, wäre ich der erste, der sich für eine Strafmilderung aussprechen würde. Bislang tut er das Gegenteil.
Was würde eine Aussage ändern?
FISCHER Unfassbar viel. Jeder, der jemals ein Krebsmedikament von diesem Mann bezogen hat, fragt sich doch: Ist mein Krebs deshalb wieder ausgebrochen? Wäre es vermeidbar gewesen? Unzählige Hinterbliebene im Ruhrgebiet und im Rheinland können deshalb ihre Trauerarbeit nicht zu Ende bringen, sie finden ihren Seelenfrieden nicht. Vielleicht hat der Mann 90 oder 95 Prozent seiner Patienten korrekt behandelt, und Zehntausende könnten aufatmen. Er macht dazu keine Aussage. Das werfe ich ihm vor allem vor: Dass er sich mit jedem Tag, der vergeht, weiter schuldig macht.
Sie meinen das seelische Leid der Betroffenen.
FISCHER Nicht nur. Die Effektivität von Chemotherapien hängt wesentlich von der inneren Einstellung der Patienten ab. Wer glaubt, dass ihm ein Medikament helfen wird, dem hilft es tendenziell auch eher. Dieser Placebo-Effekt verkehrt sich nun ins Gegenteil: Das Vertrauen vieler Patienten ist jetzt natürlich erschüttert; plötzlich zweifeln sie daran, dass ihre Medikamente optimal wirken. Allein die Erschütterung dieses Vertrauens kann Leben kosten oder schon gekostet haben.
Was sind die Folgen für die direkt Betroffenen?
FISCHER Durch die Unterversorgung mit Medikamenten wird der Krebs nicht wie geplant gebremst. Selbst wenn die Behandlung später mit der korrekten Dosis weitergeführt wird, ist der Krebs durch die zwischenzeitlich zu schwache Behandlung vielleicht zu stark geworden – und immun gegen das Mittel, das den Krebs bei richtiger Anwendung in Schach gehalten oder besiegt hätte.
Was enttäuscht Sie am meisten?
FISCHER Ich vermisse einen Aufschrei. Nichts scheint sich zu bewegen. Bis heute findet keine Kontrolle statt. Vor einem halben Jahr hat Gesundheitsministerin Barbara Steffens geäußert, sie sei tief betroffen. Seitdem ist nichts passiert. Von den Ermittlern hören wir Betroffenen auch nichts. Selbst mein Onkologe hat versucht, das Ganze zu beschönigen. Viele einflussreiche Menschen, die ich angesprochen habe, halten die Hand über diesen Mann.