Der Staat als Beifahrer der Krise
BERLIN Nun sind alle aufgewacht: „Wenn sich die Kartellvorwürfe bestätigen sollten, wäre das ein gigantischer Betrug zulasten der Kunden und Zulieferunternehmen“, sagt SPD-Chef Martin Schulz. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) warnt: „Kartellrechtliche Absprachen wären eine zusätzliche Belastung für die Thematik, die wir gerade mit der Autoindustrie haben.“Der ADAC fordert Aufklärung.
VW, Audi, Porsche, BMW und Mercedes sollen sich nach einem Bericht des „Spiegel“seit den 90er Jahren in geheimen Zirkeln über Technik, Kosten und Strategien abgesprochen haben – und über die Abgasreinigung der Diesel. Stefan Bratzel, Autoexperte der FH Bergisch-Gladbach, spricht von einem „Super-Gau für die Glaubwürdigkeit“der Branche. Er gibt aber auch der Politik eine Mitschuld – wegen der „Kultur des Wegschauens“. Die Bevölkerung habe den Eindruck, Gesundheitsinteressen würden geringer bewertet als die Interessen der Industrie.
Tatsächlich betätigt sich die Politik seit Langem als aktiver Beifahrer der Branche. Gerhard Schröder (SPD) ließ sich gerne von den Konzernchefs als Autokanzler feiern, er kämpfte für das VW-Gesetz und gegen die Dienstwagen-Besteuerung. Selbst Angela Merkel (CDU), der die PS-Protzerei persönlich zuwider ist, springt der Branche immer wieder mit Milliarden bei: sei es mit der Abwrackprämie in der Finanzkrise oder nun mit der Kaufprämie für Elektroautos. Besonders hat es den Regierenden der Diesel angetan. Sie haben den Selbstzünder so stark gefördert, dass die Branche die Entwicklung von Zukunftstechnologien verschlief, und nahmen es mit dem Umweltschutz offensichtlich nicht so genau.
Die deutsche Politik subventioniert den Diesel seit Jahrzehnten. „Diesel-Fahrer müssen weniger Mineralöl- beziehungsweise Energiesteuer zahlen als Fahrer von Benzinern, das bedeutet von 1986 bis 2017 Subventionen von 200 Milliarden Euro“, rechnet Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer von der Uni Duisburg-Essen vor. Zwar werden Diesel bei der Kfz-Steuer stärker belastet als Benziner. Doch selbst wenn man dies gegenrechne, blieben immer noch NettoSubventionen von 140 Milliarden Euro für den Diesel über, so Dudenhöffer. Das volkswirtschaftliche Problem daran: Der Staat hat mit den MilliardenSubventionen die Diesel-Nachfrage künstlich erhöht und so die Anstrengungen der Hersteller in Richtung Diesel gelenkt, obwohl die Zukunft elektrisch fährt, wie jetzt Volkswagen-Chef Matthias Müller sagt. Porsche, das Trecker-Image von Diesel fürchtend, hatte sich lange geweigert, mitzumachen. Doch 2009 war es dann auch in Zuffenhausen so weit, der Diesel-Cayenne kam.
Der Diesel galt lange als umweltfreundlich, weil er weniger Kohlendioxid (CO2) ausstößt als Benziner. Eine große Chance für deutsche Hersteller: Da sie im Vergleich zu französischen oder italienischen Konkurrenten sehr viele Oberklasse-Wagen herstellen, die besonders viel klimafeindliches Gas ausstoßen, können sie die CO2-Ausgaben der Europäischen Union für ihre gesamte Flotte nur einhalten, wenn sie auf einen hohen Diesel-Anteil kommen. Allerdings stoßen Diesel technikbedingt viele giftige Stickoxide aus und treiben die Feinstaub-Belastung in Großstädten in die Höhe.
Diese Probleme aber verharmlosten Hersteller und Politik in schöner Gemeinschaftsarbeit. Die EU-Kommission mahnte Deutschland seit 2010 immer wieder ab, weil in vielen Städten die Feinstaub-Konzentration höher ist, als die EU erlaubt. Doch nichts geschah. „Derzeit sind es fast 30 Städte, in denen die Belastung über den erlaubten 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft liegt, darunter Stuttgart, Köln und Düsseldorf. Und die deutsche Politik tut nichts“, sagt Dudenhöffer. Die EU-Kommission könnte gegen die deutsche Untätigkeit vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. „Doch der deutsche Einfluss in Brüssel ist groß. Gegen seine Förderin Angela Merkel will EU-KommissionsPräsident Jean-Claude Juncker wohl nichts unternehmen“, mutmaßt der Experte.
Zwar zwang Deutschland die Hersteller zum Einbau von Abgasreinigungen wie Filtern, Katalysatoren und Adblue-Systeme. Adblue ist eine Harnstofflösung, mit der sich Stickoxide neutralisieren lassen und für die sich die Hersteller laut „Spiegel“auf kleine, billige Tanks verständigt haben sollen. Doch zugleich gab der Staat den Herstellern die Möglichkeit, die Motoren mit Abschalteinrichtungen („defeat devices“) zu versehen. Die Frage ist, ob sie dabei Gesetz gebrochen oder nur Gesetzeslücken genutzt haben. In die Kategorie „Gesetzesbruch“gehört zumindest in den USA die Software, die erkennt, dass ein Auto auf dem Prüfstand steht. Zur Kategorie Ausnutzung großer Gesetzeslücken dürften die so genannten Thermo-Fenster zählen. So gesteht die Politik den Herstellern zu, dass sie die Abgasreinigung bei bestimmten Temperaturen abschalten können. Dadurch sollen gefährliche Ablagerungen im Motor verhindert werden. „Dieses Thermofenster nutzen die Hersteller nun weidlich aus – zumal die Politik es ihnen freistellt, bei welcher Temperatur sie die Abgasreinigung abschalten“, kritisiert Dudenhöffer.
Erst jetzt, wo Städte aktiv werden, mit Fahrverboten drohen und die Verbraucher gegen sich aufbringen, bewegt sich etwas. Am 2. August soll der nationale Diesel-Gipfel Auswege aus der Krise suchen. Um Fahrverbote zu verhindern, bietet die Branche Nachrüstungen und Gespräche über einen Diesel-Ausstieg an. „Wenn man mit entsprechenden Vorlaufzeiten agiert, kann ich mir vorstellen, dass das funktioniert. Wir sind darüber im Gespräch mit der Politik“, hatte VW-Chef Müller unserer Redaktion gesagt. Zuvor hatten schon Volvo und Porsche den Ausstieg ins Spiel gebracht. Noch im März sagte Merkel, Diesel seien gut für die Umwelt. Nun spricht sie lieber davon, man sei in einer „Transformationsphase weg vom Verbrennungsmotor“. Das Endspiel für den Diesel hat begonnen.