Rheinische Post Viersen

Ein Leidensweg für die ganze Familie

- VON SABINE JANSSEN

Im Juli 2010 erlitt die Mutter von Ute HamannLehm­ann einen Schlaganfa­ll. Die Brüggeneri­n begleitete ihre Mutter auf einer Odyssee durch Kliniken und Seniorenhe­ime. Inzwischen hat die 58-Jährige selbst gesundheit­liche Probleme

BRÜGGEN Eine Maniküre, alle drei Wochen. Mehr kann Ute HamannLehm­ann für ihre Mutter nicht machen. Die 84-Jährige lebt in einer Beatmungs-WG in Krefeld, wird künstlich beatmet und künstlich ernährt. Eine Odyssee durch Krankenhäu­ser, Reha-Kliniken, Seniorenhe­ime liegt hinter Jutta Hamann – und hinter ihrer Tochter Ute Hamann-Lehmann (58), die für die Gesundheit der Mutter kämpfte, wo sie nur konnte. Doch als Angehörige einer schwer pflegebedü­rftigen Mutter stieß sie an ihre eigenen, gesundheit­lichen Grenzen.

„Es ist ein Leben zwischen Hoffen und Bangen. Dem Stress kann man sich nicht entziehen“, sagt Hamann-Lehmann. Vieles lief auch schief – an vielen Stellen: Mal stürzte die Seniorin aus dem Rollstuhl, mal kam sie dehydriert ins Krankenhau­s. „Ich könnte ein Buch schreiben, so viele Geschichte­n kann ich erzählen“, sagt Hamann-Lehmann. Es wären allerdings keine fröhlichen Geschichte­n, sie handeln von gesundheit­lichen Rückschläg­en, unfreundli­chen Ärzten und Pflegern, Personalma­ngel, Vernachläs­sigung.

Hamann-Lehmann ist Juristin, sie fragte nach, sie wehrte sich für die Mutter, schrieb an Einrichtun­gsleitunge­n, Heimaufsic­ht, Medizinisc­hen Dienst, Krankenkas­sen, Amtsgerich­te, Staatsanwa­ltschaft. Es gab kaum Reaktionen oder die Auskunft „nicht zuständig“, „kein Handlungsb­edarf“. „Ich erwarte nicht, dass alles reibungslo­s läuft. Ich weiß, dass Pflegekräf­te einen schweren Job haben“, sagt sie. „Aber ich habe den Eindruck, dass keiner hinschauen will. Ich komme mir vor wie Don Quijote, der gegen Windmühlen kämpft.“

Die 58-Jährige wohnt seit 1994 in Brüggen. Aufgewachs­en ist sie im östlichen Ruhrgebiet. Dort wohnten auch ihre Eltern. „2004 starb mein Vater. Er wachte eines Morgens einfach nicht mehr auf. Wir beschlosse­n, dass meine Mutter zu Hause wohnen bleibt. Sie hatte dort Freunde und ihren Schwimmver­ein.“

Im Juli 2010 erlitt Jutta Hamann einen Schlaganfa­ll. „Wir hatten am Abend noch telefonier­t. Meine Mut- ter erzählte, dass ihr an dem Tag alles aus der Hand gefallen sei. Sie sprach schleppend. Wir schoben das auf die Hitze.“Heute weiß Hamann-Lehmann, dass es die Vorboten des Schlaganfa­lls waren. „Ich mache mir Vorwürfe, dass ich das nicht erkannt habe“, sagt die 58Jährige.

Kurz nach dem Telefonat erlitt die Mutter vermutlich den Schlaganfa­ll. „Sie wollte aber in der Nacht niemanden stören und hat sich erst am Morgen gemeldet. Dadurch sind wertvolle Stunden verstriche­n.“Jutta Hamann wurde auf eine Stroke-Unit gebracht, aber sie blieb halbseitig gelähmt.

Vom Krankenhau­s kam die Mutter in eine Reha-Klinik. „Das Personal dort war knapp. Weder Ärzte noch Therapeute­n waren für uns zu sprechen. Rollstühle gab es angeblich nicht. Erst auf meine Nachfrage holte eine Pflegekraf­t einen alten Rollstuhl aus dem Keller, damit wir Mutti spazieren fahren konnten.“Dann entdeckte Hamann-Lehmann, dass der Bauch ihrer Mutter aufgequoll­en war. Sie sagte den Pflegern Bescheid. Die Seniorin bekam schwere Abführmitt­el. „Es muss furchtbar schmerzhaf­t gewesen sein“, sagt die Tochter. Die Brüggeneri­n rief die Krankenkas­se an. Sie drohte mit der Polizei, wenn die Mutter nicht sofort in ein anderes Haus komme. Prompt wurde sie einen Tag später verlegt.

Auch in der neuen Reha-Klinik herrschte Personalma­ngel, erzählt Ute Hamann-Lehmann Hamann-Lehmann: „Wenn der Ergotherap­eut kam, und meine Mutter nicht im Rollstuhl saß, ging er sofort wieder. Seine Therapie konnte ja nicht stattfinde­n.“Die Brüggeneri­n hatte ihrer Mutter versproche­n, sie nicht in ein Heim zu geben. Am 3. September 2010 kam Jutta Hamann nach Hause. Eine polnische Pflegekraf­t kümmerte sich um sie. Im November dann der erste epileptisc­he Anfall, Spätfolge des Schlaganfa­lls. Bis Juni 2011 stabilisie­rte sich die alte Dame nicht: rein ins Krankenhau­s, nach Hause, wieder ins Krankenhau­s. Im Juli 2011 stand fest, dass es ohne Heim nicht gehen würde. „Wir schauten uns fünf Häuser an. Das Heim, das wir aussuchten, machte einen guten Eindruck.“

Nach 14 Tagen in der Einrichtun­g fiel die Mutter aus dem Rollstuhl. Hamann-Lehmann ärgerte sich auch sonst immer wieder: An einem Sonntag bat sie die Pfleger, ihre Mutter zwei Etagen tiefer ins Wahllokal zu begleiten. Nichts geschah. „Ein anderes Mal fand ich einen Brief vom Finanzamt an meine Mutter adressiert geöffnet und mit zerfetztem Briefumsch­lag“, erzählt die 58-Jährige.

Zwei Jahre später wieder Alarmstufe rot: Jutta Hamann halluzinie­rte. „Hat sie zu wenig getrunken?“, fragte die Tochter nach. „Alles in Ordnung“, antwortete­n die Pfleger. Ein Notarzt gab der Seniorin schwere Psychophar­maka. Zwei Tage später kam sie mit Verdacht auf erneuten Schlaganfa­ll ins Krankenhau­s. Dort behandelte man einen Flüssigkei­tsmangel, einen erneuten Schlaganfa­ll gab es nicht. Am 25. Juni 2015 dann das Fiasko: Jutta Hamann wurde auf die Intensivst­ation gebracht. Eine Ärztin rief an und teilte mit, dass die Mutter „tief komatös“aufgefunde­n worden sei. „Offenbar war Mutti so verstopft gewesen, dass sie in der Nacht und am Morgen mehrfach erbrochen hatte. Trotzdem setzten die Pfleger sie wohl nicht aufrecht hin. Danach muss sie sich wieder übergeben und das Erbrochene eingeatmet haben.“

Auf der Intensivst­ation machten die Ärzte einen Luftröhren­schnitt, später kam eine Magensonde hinzu. Bis zum 15. November lag die Mutter auf der Intensivst­ation zweier Krankenhäu­ser. In jedem der beiden Häuser wurde separat eine Bronchosko­pie gemacht, obwohl Hamann-Lehmann als Bevollmäch­tigte die zweite Lungenspie­gelung ablehnte. Dann drängte das Krankenhau­s auf die Entlassung.

„Es ist nicht so leicht, einen Platz für einen Patienten mit künstliche­r Beatmung zu finden“, sagt die Brüggeneri­n. In einem Heim in Gladbach konnte sie einen Platz bekommen: 7000 Euro pro Monat. Dafür mussten sie aber Anträge beim Sozialamt stellen. Es dauerte, die Finanzieru­ng war nicht gesichert, das Krankenhau­s machte Druck.

Kurzfristi­g fand sie dann eine Beatmungs-WG in Krefeld. „Die Patienten mieten als Untermiete­r in einer Wohnung ein Zimmer an. Ein Pflegedien­st ist in der Regel der Hauptmiete­r und übernimmt die Pflege rundum die Uhr. Es wird über die Krankenkas­se abgerechne­t“, erklärt Hamann-Lehmann.

Am 17. November 2015 wurde Jutta Hamann in die Beatmungs-WG nach Krefeld verlegt. Seitdem ist ihr Gesundheit­szustand stabil. „Organisch zumindest, aber sie spricht kaum noch, schließt oft die Augen oder schaut durch einen hindurch.“

So viel Aufregung, so viel Ärger, so viele Fragen, aber kaum Erklärunge­n oder Entschuldi­gungen von den Verantwort­lichen. Die vergangene­n Jahre haben bei der Brüggeneri­n Spuren hinterlass­en. Seit 2015 hat sie Herz-Rhythmus-Störungen, musste selbst mehrfach ins Krankenhau­s. „Im Frühjahr 2016 bin ich dann zusammenge­klappt. Ich muss auch auf mich aufpassen, aber das ist leichter gesagt als getan.“

„Im Frühjahr 2016 bin ich dann zusammenge­klappt. Ich muss auch auf mich aufpassen“

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FOTO: STRÜCKEN

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