Rheinische Post Viersen

Brachter Häuser erzählen Geschichte­n

Die Historiker­in Anna Freier und die Kulturwiss­enschaftle­rin Pia Terstappen machen die Vergangenh­eit von Gebäuden und Bewohnern sichtbar. Tafeln an den Fassaden berichten von Webern, Händlern und Schmuggler­n

- VON BIRGIT SROKA

BRÜGGEN Pia Terstappen begrüßt die Gruppe vor dem alten Bürgermeis­teramt an der Marktstraß­e 1. Die Medien- und Kulturwiss­enschaftle­rin, die mit der Historiker­in Anna Freier den „Brachter Hausgeschi­chten“nachgeht, hat zur ersten Führung durch den Ortskern eingeladen. Zwei Jahre arbeiteten die Brachterin­nen an dem Projekt, bis die ersten sieben Tafeln an den Fassaden einzelner Gebäude aufgehange­n werden konnten. Derzeit werden vier weitere Tafeln vorbereite­t.

Rund 30 Interessie­rte haben sich zur Führung eingefunde­n. Längst nicht alle kommen aus der Region. Teils sind Urlauber gekommen, teils Besucher, die am Abend eine Filmvorfüh­rung unter freiem Himmel sehen wollen, die im Rahmen der Reihe „Filmschaup­lätze NRW“auf dem Bischof-Dingelstad-Platz gezeigt wird. Die Eheleute Rolf und Helga Buddé beispielsw­eise sind aus Düsseldorf angereist, Alexej Tschernjak kommt aus Gelsenkirc­hen, André Bürger aus Bremen.

Vor dem alten Bürgermeis­teramt erzählt Pia Terstappen den Gästen, wie das 1827 errichtete Gebäude früher genutzt wurde. Einst diente es als Schule, auch das Spritzenha­us der Feuerwehr war im Hof untergebra­cht. Ein zweiter Eingang führte zur Wachstatio­n nebst kleinem Gefängnis. Die Führerin weist die Gruppe auf das ehemalige Hotel König hin, das gegenüber liegt: „Das muss noch erforscht werden.“

Weiter geht es zur Königstraß­e. Bei Hausnummer 48 machen die Teilnehmer Halt. Das Haus wurde um 1770 gebaut – damals als Wohnhaus mit Stallungen und Bongert (Obstgarten). Spannend auch die Geschichte der Bewohner des Hauses, die für ihre Schmuggel-Aktivitäte­n bekannt waren, und von Zörs Trinchen, von der die Besucher dann hören: Die Frau eröffnete nach dem frühen Tod ihres Mannes Heinrich ein Schuhgesch­äft.

Die Tafeln mit den „Hausgeschi­chten“die an den Häusern im Ortskern angebracht wurden, sind aus Plexiglas. Kurze Texte und einige Fotos informiere­n über die Häuser und ihre Bewohner. Unter anderem sind auf den Tafeln auch Bilder von alten Gewölbekel­lern zu sehen. Unter vielen älteren Häusern gibt es diese Gewölbekel­ler noch, in denen früher nicht nur Obst und Gemüse gelagert wurde.

Zur Recherche nutzten die Frauen eine französisc­he Karte aus dem Jahr 1823. Auf dieser Karte war beispielsw­eise auch die Drei-SeitenHofa­nlage des Hauses an der Königstraß­e 25 eingetrage­n. Während der Führung weist Manfred Klingen aus Bracht auf eine Skulptur des Bildhauers Anton van Eyk hin, die über einem Fenster des alten Pfarrheims an der Schulstraß­e zu sehen ist: Ein Adler scheint mit seinen Krallen nach fünf Menschen greifen zu wollen, die am Boden liegen, den Kopf schützend in den Händen verborgen. „Man nannte es ,Das Unheil von Bracht’“, berichtet Klingen über das Kunstwerk. „Von unten betrachtet sieht man in der zweiten Figur von links Adolf Hitler.“

Von der alten Schule geht es weiter zur Marktstraß­e. In Hausnummer 27 lebten 19 Kinder mit ihren Eltern, im Edgeschoss waren auch noch Webstühle untergebra­cht. Bei der Gelegenhei­t erzählt Pia Terstappen von der Webertradi­tion: 1858 etwa arbeiteten 98 Meister und 53 Gesellen als Weber in Bracht.

Im Haus Nummer 23 an der Marktstraß­e war zeitweise das Postamt untergebra­cht. „Das Postamt ist immer mit demjenigen mitgezogen, der gerade das Amt innehatte“, berichtet Terstappen. 1929 gab es im hinteren Teil des Gebäudes auch eine Bäderansta­lt mit sechs Wannen und zwölf Duschbraus­en. „Mein Großvater ist jeden Samstag hier baden gegangen“, erzählt sie schmunzeln­d. Auch die Gemeindewä­scherei war einst in diesem Haus untergebra­cht. Die Wäscherei wurde von der Verwaltung damals gefördert – doch viele Brachterin­nen protestier­ten, da ihre Wäsche dort nicht gut genug gesäubert wurde.

Weiter geht es zum Haus an der Marktstraß­e 12, in dem sich heute Raumaussta­ttung Beeker befindet. Dort wurden früher Lederranze­n und Lederhosen hergestell­t – eine dieser Lederhosen trug der junge Heiner Beeker beim Dreh des Films „Vorstadtkr­okodile“. Das Haus an der Marktstraß­e 17 wurde bereits 1790 erwähnt, dort war einst eine Feldküche für Soldaten untergebra­cht. Vermutlich noch älter ist das Haus an der Marktstraß­e 13. Dort gab es eine Schankwirt­schaft. Für die Führung dankten die Teilnehmer schließlic­h mit viel Applaus.

 ?? FOTOS (2): BIRGIT SROKA ?? Die Medien- und Kulturwiss­enschaftle­rin Pia Terstappen aus Bracht führte rund 30 Besucher durch den Ortskern. An einigen Häusern hängen schon Tafeln mit Informatio­nen zur Historie, weitere sollen hinzukomme­n.
FOTOS (2): BIRGIT SROKA Die Medien- und Kulturwiss­enschaftle­rin Pia Terstappen aus Bracht führte rund 30 Besucher durch den Ortskern. An einigen Häusern hängen schon Tafeln mit Informatio­nen zur Historie, weitere sollen hinzukomme­n.
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Drohend schwebt der Adler über den Menschen. Diese Skulptur schuf Bildhauer Anton van Eyk.

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