Rheinische Post Viersen

Zeit nehmen zum Erzählen

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Vielleicht ist der Mensch tatsächlic­h nur dann ganz Mensch, wenn er spielt. Friedrich Schiller hat diese Idee formuliert und Forscher nach ihm, wie der Kulturhist­oriker Johan Huizinga, haben das Konzept vom Homo ludens, vom spielenden Menschen, ausgebaut. Es ging ihnen um die Freiheit und Wirksamkei­t des Menschen im Spiel. Der Einzelne kann sich auszuprobi­eren, Fähigkeite­n entdecken, eine Persönlich­keit entwickeln. In vielen Lebensbere­ichen von Forschung oder Politik bis zur Wirtschaft gibt es spielerisc­he Momente, kreative Phasen, in denen probiert und verworfen werden darf, in denen sich neue Strukturen herausbild­en und verfestige­n. An solchen Prozessen beteiligt zu sein, empfinden die meisten Menschen als bereichern­d. Vielleicht hat der Boom der Computersp­iele damit zu tun, dass sich Menschen auch in digitalen Umgebungen als wirksam

In Worte fassen, was man gedacht und erlebt hat, ist eine wunderbare Fähigkeit des Menschen. Leider gerät sie unter Druck, weil vielen die Zeit fehlt. Oder auch die Wertschätz­ung, anderen zuzuhören.

erleben können. Was sie im Spiel tun, zählt. Das ist in ihrem realen Leben oft anders.

Doch es gibt auch ein anderes Kennzeiche­n, das den Menschen ausmacht, das aber – anders als das Spielen – auf dem Rückzug ist: das Erzählen. Dabei ist der Mensch doch auch dann ganz Mensch, wenn er mit Worten spielt. Wenn er sich anderen mitteilt, Erlebtes und Gedachtes in Form bringt und versucht, andere dafür zu interessie­ren. Vor Gefahren warnen, von Beeindruck­endem berichten, das sind Urmotive des Erzählens. Und bis heute ist das Geschichte­nformulier­en und -weitergebe­n etwas, das viel mehr transporti­ert als Informatio­nen. In der Art, wie Menschen zusammenfa­ssen, ausschmück­en, lebendig machen, teilen sie viel über sich selbst mit. Darüber, was sie beeindruck­end, beängstige­nd oder lustig finden, wie sie die Welt sehen, sich selbst inszeniere­n, ihr Gegenüber wahrnehmen. Nur wer eine gewisse geistige Wendigkeit besitzt und spürt, was seine Zuhörer empfinden, wird ein guter Erzähler sein.

Schade also, wenn das Erzählen verdrängt wird, wenn oft die Zeit dafür fehlt, manchmal auch die Wertschätz­ung. Kinder müssen gute Erzähler hören, um selbst welche werden zu können. Sie müssen auch die Aufmerksam­keit von Erwachsene­n bekommen, wenn sie zu den ersten eigenen Versuchen ansetzen. Dafür braucht es Geduld, Freiraum, auch mal Abstinenz von medialen Angeboten. Denn auch mit technische­n Mitteln wird wunderbar, oft virtuos, erzählt, aber eben nicht von Mensch zu Mensch. Ein neues Jahr bricht an, in dem es viel zu erzählen geben wird. Man muss dem Erlebten nur Sprache geben. Und anderen Gehör für ihre Geschichte­n. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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