Das Haus der 20.000 Bücher
Er sollte einen großen Teil der ihm noch verbleibenden sechzehn Jahre seines Lebens darauf verwenden, die in jenem Band dargelegten Theorien weiterzuentwickeln, doch erst nach seinem Tod stellte sein Mitarbeiter Friedrich Engels Marx’ Manuskripte zusammen und publizierte sie als Band 2 und 3 von Marx hielt sich, wie Engels auf dessen Beerdigung im Jahre 1883 kundtat, für den Darwin der sozialen Welt, da er die wissenschaftlichen Geheimnisse entschlüsselt habe, die verdeutlichten, wie sich Gesellschaften und Ökonomien im Laufe der Zeit entwickelten und wandelten und warum manche gediehen und andere verkümmerten. Viele Jahre lang glaubten Marxismus-Experten, Karl Marx habe Darwin geschrieben und angeboten, ihm Band 1 von
zu widmen. In jüngerer Vergangenheit sind diese Experten jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass es Edward Aveling war, der Lebensgefährte von Marx’ Tochter Eleanor, der Darwin zu einem etwas späteren Zeitpunkt vorgeschlagen hatte, diesem eines seiner eigenen Traktate zu widmen. Letzten Endes lehnte der Begründer der modernen Evolutionstheorie Avelings Angebot höflich ab.
Es ist wenig verwunderlich, dass sich in Chimens Sammlung entsprechende Hinweise auf (und über) diesen Briefwechsel befanden. Offenbar hatte Darwin keine speziellen Einwände gegen die kommunistische Wirtschaftstheorie oder die Analyse der Entwicklung moderner Marktökonomien – Lehren, die Marx sorgfältig dargelegt hatte und zu deren führenden Verfechtern Aveling in den 1880er Jahren gehörte. Vielmehr fürchtete
tal Das Kapital. Das Kapi-
Darwin, mit einer so berüchtigten Gruppe von Atheisten in Verbindung gebracht zu werden. Schließlich hatte er dank seiner Evolutionstheorie schon genug Probleme mit seiner strenggläubigen christlichen Frau.
Ähnliches spielte sich in Mimis Küche ab. Ihre frommen Familienmitglieder und angeheirateten Verwandten standen bereits ihrer und Chimens politischer Einstellung argwöhnisch gegenüber (obgleich Chimen seinem Vater nie ausdrücklich mitteilte, dass er ein atheistischer Kommunist war). Auf keinen Fall sollte die ältere Generation Schinkenspeck im Kühlschrank vorfinden oder feststellen, dass im Hillway Milch- und Fleischbestecke nicht getrennt voneinander aufbewahrt wurden. Das wäre ihrer Meinung nach zu weit gegangen. Mithin wahrten meine Großeltern, wenngleich Mimi manchmal in Restaurants Schweinefleisch aß und Chimen im Urlaub an der englischen Südküste oder (später) in Italien Hummer kaufte, zu Hause – und überhaupt in London – den koscheren Schein.
Infolgedessen gab es in der Küche zwei Spülbecken, eines für Geschirr und Bestecke, die bei der Zubereitung von Fleischgerichten benutzt worden waren, und ein zweites für Geschirr, das man für Milchgerichte verwendet hatte. Nicht dass irgendetwas in der Küche je gründlich gesäubert worden wäre; alles war mit einer Fettschicht überzogen, und an den Herdplatten schienen immer hartnäckig die angebrannten Überreste früherer Mahlzeiten zu kleben. Für den Abwasch war Chimen zuständig, und trotz der Gewissenhaftigkeit, mit der er sich seine Schürze umband, bevor er an die Arbeit ging, war er nie mit vollem Herzen bei der Sache. In späteren Jahren besaßen meine Großeltern auch eine Geschirrspülmaschine, die ausschließlich für Fleischbestecke und -teller benutzt werden sollte – oder war es doch das Milchgeschirr? In meiner Kindheit konnte meine Mutter beides nie auseinanderhalten, weshalb Chimen sie, wenn sie das Geschirr nach einem Familientreffen abwaschen wollte, fast buchstäblich aus der Küche jagte. Rückblickend vermute ich, dass dieser Umstand ihr durchaus behagte.
Meine Mutter ist Amerikanerin, aber sie wurde trotz ihrer Nationalität geduldet, als sie sich in den Dunstkreis des Hillway begab. Denn in den 1960er Jahren herrschte im Hillway ein kultureller Argwohn gegenüber allem, was mit den Yankees zu tun hatte. Und damit meinte man Jazz und Baseball ebenso sehr wie McCarthyismus und Rassentrennung. Diese Einstellung war ein Relikt aus den Tagen des Kommunismus, doch auch typisch für den Zeitgeist der Nachkriegsjahre, als viele Briten, denen es schwerfiel, sich mit dem Statusverlust des Vereinigten Königreichs in der Welt abzufinden, Amerika äußerst feindselig gegenüberstanden – und das unabhängig von ihrer politischen Einstellung. Die Amerikaner waren, wie man im Krieg spöttisch sagte, „überfüttert, übergeil und überall“. Sie galten als die neuen Imperialisten, dreist bei der Machtübernahme, ohne kulturellen Feinschliff und nicht niveauvoll genug für die Weltbühne. Aber vielleicht waren die Briten nur neidisch. Die globalen Ambitionen Amerikas waren weder anstößiger noch weniger umfassend als die Großbritanniens in den Ruhmestagen des Empire. Wie dem auch sei, ob aus politischer Überzeugung oder einfach aus Sno- bismus, der Hillway war in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten genauso antiamerikanisch gestimmt wie etwa der konservative Carlton Club oder Jimmy Porter, der gehässige, alkoholsüchtige Protagonist in John Osbornes Drama
der bitter anmerkt, dass „es ziemlich trostlos ist, im amerikanischen Zeitalter zu leben – es sei denn natürlich, man ist Amerikaner“. (Oder wie übrigens auch Chimens eigener Urgroßvater, der Ridbaz, der im späten 19. Jahrhundert einige Jahre in New York verbracht hatte, bevor er angewidert nach Weißrussland zurückkehrte. Amerika, teilte er jedem mit, der es hören wollte, sei eine
ein unreines Land des Säkularismus und der Assimilation.) Im Nachkriegsengland war Antiamerikanismus die salonfähige Bigotterie der Epoche.
Mehrere Jahre nachdem Chimen aus der Kommunistischen Partei ausgetreten war, schrieb er im Zusammenhang mit einem Verkauf seltener Texte an einen alten Parteigenossen, den Journalisten und Filmemacher (und, wie sich später herausstellte, sowjetischen Spion) Ivor Montagu. „Mein lieber Ivor“, begann er, „würdest Du mir bitte helfen? Vor ein paar Monaten habe ich Jack für unsere gemeinsamen Freunde einige sehr wichtige unveröffentlichte Briefe von Marx und vier Seiten seines Entwurfs für
angeboten. Außerdem diverse überaus seltene Erstausgaben von Lenin und Marx. Bis zum heutigen Tag habe ich nichts von ihnen gehört. Es gibt einen amerikanischen Sammler, der sie erwerben möchte, aber ich bin sehr abgeneigt, solche Dinge einem US-Kapitalisten zu überlassen.“(Fortsetzung folgt)
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