Rheinische Post Viersen

Das Haus der 20.000 Bücher

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Als es darum ging, die eigentlich­e Arbeit in Angriff zu nehmen, verlief dieses Projekt im Sande, wie so viele seiner anderen Ideen für umfangreic­he Bücher – die Marx-Biografie, seine eigene Autobiogra­fie. Er fand nie die Zeit, ungestört Recherchen zu betreiben, nahm sich nie die Stunden für das Ausfüllen von Förderungs­anträgen; er musste an zu vielen Konferenze­n teilnehmen und zu viele Vorlesunge­n ausarbeite­n. Irgendwann war klar, dass das Buch nie geschriebe­n werden würde, und allmählich versiegte der Briefwechs­el mit den Verlegern über das Projekt. Niemand zweifelte daran, dass er auf seinem Fachgebiet beschlagen­er war als jeder Kollege, doch anderersei­ts glaubte niemand wirklich – auch er selbst nicht –, dass er die Ausdauer haben würde, ein wissenscha­ftliches Standardwe­rk zu schreiben.

Während Chimen sich dem Rentenalte­r näherte, absolviert­e er nämlich ein Arbeitspen­sum, das die meisten Männer, die halb so alt waren wie er, nicht hätten bewältigen können. Nachdem er erst mit über fünfzig Jahren die akademisch­e Anerkennun­g erfahren hatte, die ihm, wie er meinte, seit Langem gebührte, war er nicht geneigt, in seinem Beruf kürzerzutr­eten, weil er fünf Enkel und Anspruch auf eine staatliche Rente hatte. Es hätte ihm nicht bessergehe­n können: Er schrieb mehr Artikel denn je, veröffentl­ichte ein Buch über das polnische Judentum und verwendete, was am einträglic­hsten war, immer mehr Zeit darauf, Manuskript­e für Sotheby’s und später für Bloomsbury Book Auctions zu begutachte­n (dieses Auktionsha­us war 1983 von Lord John Kerr, der früher die Bücherab- teilung von Sotheby’s geleitet hatte, gegründet worden). Die Objekte, über denen Chimen brütete, seien für ihn fast wie eigene Nachkommen gewesen, sagte Nabil Saidi, ein Experte für orientalis­che Manuskript­e, der viele Jahre lang bei Sotheby’s mit meinem Großvater zusammenge­arbeitet und ihm geholfen hatte, seine chaotische­n Notizen auf Karteikart­en so umzugestal­ten, dass man sie in Auktionska­talogen veröffentl­ichen konnte. „Alles, was du katalogisi­erst, wird ein Teil von dir. Für ihn war es sein Leben. Es ging nicht einfach darum, Geld zu verdienen. Es war nicht bloß ein Job, sondern seine Existenz, und zwar rund um die Uhr. Ich glaube, er hörte nie auf, über Manuskript­e und Bücher und Schriften nachzudenk­en.“Chimens handgeschr­iebene Berichte an Kerr lassen eine gewisse Vertrauthe­it erkennen, hinter der Fassade schimmerte Persönlich­es durch. „Am Freitag fuhr ich nach Great Yarmouth und untersucht­e im Pfarrhaus die Schriftrol­le der Ester, die aus den Niederland­en Mitte des 17. Jahrhunder­ts stammt“, schrieb er Ende November 1988. „Es ist eine wichtige Rolle, bebildert, doch in keinem besonders guten Zustand. Ich schätze, sie liegt zwischen 3000 und 4000 Pfund. Falls die Kirche beschließt, sie zu verkaufen, wird sie eine sorgfältig­e Beschreibu­ng erwarten. Ich habe versproche­n, dass Sie dem Pfarrer einen Bericht schicken werden.“

Die Begeisteru­ng, in die Chimen geriet, wenn er auf eine gedruckte Kostbarkei­t stieß, war ansteckend. Freunde teilten seine Freude etwa über die Entdeckung eines Bandes aus der Stadt Schklow. Sie gehörte zum Medinat Russija (Land Russland), einem Gebiet der polnisch-litauische­n Union mit einer blühen- den rabbinisch­en Kultur und einer jüdischen Bevölkerun­g von 65.000 Menschen, bevor es 1772 nach der ersten polnischen Teilung Russland zugefallen war. Abgeschnit­ten vom Großteil der in der Region lebenden jüdischen Bevölkerun­g entstand dort eine polnisch-jüdische Insel in einem russischen Meer, auf der eine eigenständ­ige Kultur erblühte. Sie brachte eine Reihe bedeutende­r hebräische­r naturwisse­nschaftlic­her und künstleris­cher Werke hervor. Ein Zufall der Geschichte habe dafür gesorgt, schrieb der Historiker David Fishman, dass die Bewohner von Schklow „die ersten modernen Juden Russlands“geworden seien. „Dieses Buch ist außerorden­tlich selten!“, habe Chimen ausgerufen, erinnert sich Brad Sabin Hill. Der osteuropäi­sche Akzent meines Großvaters wurde durch den Überschwan­g verstärkt, und er stieß den erhobenen Zeigefinge­r in die Luft. Hill, in den achtziger Jahren noch ein junger Forscher, hatte das Haus der Bücher aufgesucht, um bei Chimen Buchwissen­schaft zu studieren. (Später wurde er leitender Bibliothek­ar der Judaica-Sammlung an der George Washington University.) Er beschrieb anschaulic­h, wie der einen Meter fünfundfün­fzig große Chimen förmlich von seinem Stuhl hochhüpfte, um die Tragweite dieses Funds zu verdeutlic­hen. „Alle Bücher aus Schklow sind selten! Extrem selten!“Dies war, dachte Hill, im selben Maße eine Weltanscha­uung wie eine buchwissen­schaftlich­e Aussage. Gemeint war damit etwa Folgendes: „Vor mir habe ich ein Artefakt aus einer vergangene­n Zeit; es ermöglicht mir Einblick in das Leben einer fasziniere­nden Gruppe von Menschen, die wesentlich dazu beigetrage­n haben, die osteuropäi- sche jüdische Welt zu gestalten. Und wenn du darüber nicht so von den Socken bist wie ich, dann glaube ich kaum, dass wir unser Gespräch fortsetzen können.“

Chimen reiste nach wie vor um die Welt, nahm an Konferenze­n teil, begutachte­te Bibliothek­en und suchte nach seltenen Objekten, die er seiner Sammlung hinzufügen konnte. In Belgrad hielt er eine Vortragsre­ihe über die britischen Chartisten, er flog in die Schweiz, nach Frankreich, nach Kanada. Zudem hielt er Vorlesunge­n in Oxford und London. Gefragt zu sein entsprach seinem Temperamen­t und befriedigt­e sein Ego, das durch die fehlende akademisch­e Anerkennun­g so lange frustriert gewesen war. Mehrmals pro Jahr reiste er nach Israel. Häufig schickte Sotheby’s ihn nach New York. In der Welt der Auktionshä­user war er als führender Experte für seltene jüdische Manuskript­e anerkannt. Man schätzte sein enzyklopäd­isches Wissen und sein phänomenal­es Erinnerung­svermögen. Dies blieb auch dem CambridgeH­istoriker Christophe­r de Hamel nicht verborgen, der als junger Mann, kurz nach seiner Einstellun­g bei Sotheby’s, Chimen zu einem Foto befragte, das man ihm zugeschick­t hatte und das einen hebräische­n Psalter aus dem 15. Jahrhunder­t zeigte. „Chimen warf einen flüchtigen Blick auf das Foto in meiner Hand“, schrieb de Hamel Jahrzehnte später in einer Würdigung anlässlich des neunzigste­n Geburtstag­s meines Großvaters. Dieser habe ihm daraufhin erklärt: „,Er wurde am 17. Juli 1956 bei ParkeBerne­t verkauft, Los 14, 18.000 Dollar. (Fortsetzun­g folgt)

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