Zwei Nummern kleiner
Im Februar verlor Thomas de Maizière das Amt des Innenministers an Horst Seehofer. Vom unerfreulichen Ende und einer Last, die weicht.
BERLIN Es ist der 7. April 2018, ein deutscher Samstag mit Sonne, Fußball und Bratwurst, als Thomas de Maizière nervös wird. „Münster: Van rast in Menschenmenge“, steht auf seinem Mobiltelefon. Durch seinen Kopf flirren die Fragen vergangener Zeiten: Wen muss ich anrufen? Wo muss ich hin? Es dauert einen längeren Moment, dann wird er gewahr, dass er gar nichts mehr muss. Thomas de Maizière ist nicht mehr Bundesinnenminister. Was ist er dann? Und wie ist er es geworden?
Um verstehen zu können, was fehlt, muss man erst einmal sehen, was war. 1954 in Bonn geboren, Sohn des ersten Generalinspekteurs der Bundeswehr, Ulrich de Maizière, Cousin des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Besuch des katholischen Aloisius-Kollegs in Bonn, Eintritt in die CDU, Wehrdienst, Jurastudium. 1984 Erstkontakt zur Politik, als Mitarbeiter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Richard von Weizsäcker. 1990 das erste Regierungsamt: Staatssekretär im mecklenburg-vorpommerschen Kultusministerium. Es folgen 28 Jahre in Landes- und Bundesregierungen. Bis Februar 2018.
Karrieren reißen oft, das gilt vor allem für die Politik, brutal ab. Vollblutpolitiker haben ein Leben lang dafür gearbeitet, trainiert, sich aufgeopfert, und plötzlich, von heute auf morgen, ist es vorbei. Das tut weh. De Maizière hat es immer gesagt: „Das Ende eines Politikers ist meistens unerfreulich.“Der Politiker Thomas de Maizière ist nicht am Ende, aber er ist nicht mehr in der ersten Reihe. Er macht Politik jetzt zwei Nummern kleiner.
Es ist die letzte Nacht der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD, in der Thomas de Maizière seine Macht verliert. Ein Kuhhandel zwischen den drei Parteien in den frühen Morgenstunden des 7. Februar beschert der CSU das Innenministerium. De Maizières Ministerium. Sehr unerfreulich.
Seither trainiert der 64-Jährige ab wie ein Leistungssportler. Seit 2005 gehörte der frühere Innenminister von Sachsen zur Bundesregierung von Angela Merkel, erst als Kanzleramtschef, dann als Innenminister, dann als Verteidigungsminister und schließlich noch einmal als Innenminister. Es waren Jahre, in denen er das Handy am Mann trug, nachts lag es auf laut am Bett. „Ein Bundesinnenminister muss Tag und Nacht erreichbar sein.“Als Verteidigungsminister und Kanzleramtschef auch. Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise.
De Maizière, dem wegen seiner Nüchternheit und Akribie das Charisma einer Büroklammer zugeschrieben wird, versteht sich als Diener. 13 Jahre war er vor allem Merkels Diener. 1990 empfahl er seinem Cousin, Merkel zur stellvertretenden Regierungssprecherin der DDR zu machen. 15 Jahre später tat Merkel etwas für ihn. Und für sich selbst. Sie beauftragte ihn, im Bundeskanzleramt die Fäden ihrer ersten Regierung in der Hand zu halten: ChefBK. Eine herausgehobene Vertrauensstellung. 2018 opferte sie de Maizière ihrer Macht.
Der Christdemokrat empfängt im Paul-Löbe-Haus in Berlin. Dort, wo vor allem die Ausschüsse tagen, hat er ein Büro. Als Innenminister ist er hier einmal nicht reingekommen, weil er seinen Hausausweis vergessen hatte. Heute hat er wie viele der 708 anderen Abgeordneten ein kleines Zimmer, drei Mitarbeiter, ein Schälchen Gummibärchen und ein paar Nüsse auf dem Tisch. An der Wand eine Tafel mit Orten, die er in Wahlkämpfen besucht hat.
Der Verlust der Macht, er beginnt mit dem Materiellen. Zwei Wagen haben de Maizière in den vergangenen Jahren begleitet, zwei Fahrer, drei Personenschützer, mindestens. Er musste erst wieder lernen, wie das ist, selbst Auto zu fahren. Er lächelt, wenn man ihn danach fragt. „Personenschutz, Autos, große Büros: Das ist nichts, was mein Ego braucht“, sagt er.
Was er schon eher braucht, sind seine Themen. Seine Reaktion auf die Amokfahrt in Münster war ein Warnsignal für Thomas de Maizière. Seine Lehre: „Man sollte bewusst eine mentale Distanz zu den früheren Themen aufbauen.“Keine innere Sicherheit mehr. Auch wenn man bei seinem Nachfolger das Gefühl haben kann, er interessiere sich gar nicht so sehr für die ganze Breite des um Bauen und Heimat aufgestockten Bundesinnenministeriums.
Nach Münster, er ist zu einem Vortrag in Paris eingeladen. Eineinhalb Stunden Freizeit hatte er davor und wusste nicht damit umzugehen. „Ich war ein bisschen enttäuscht, weil ich dafür kein offizielles Programm hatte. Ich hätte doch noch einen anderen Diensttermin wahrnehmen können, dachte ich“, erzählt er. Wieder dauerte es einen Moment, bis ihm klar wurde: „Es ist doch wunderbar, in Paris Zeit zu haben! Ich könnte mich ins Café setzen und einfach schauen. Ich bin dann in eine Ausstellung gegangen. Ich habe aber nicht viel wahrgenommen, weil ich noch damit beschäftigt war, dass ich eigentlich doch gar keine Freizeit haben dürfte. Das ist aber schon besser geworden.“
Früher waren seine Reisen minutiös getaktet, heute ist Zeit für Kaffee und Kunst. „Die Entschleunigung bereitete mir am Anfang Mühe“, erzählt de Maizière. Er hat ein Buch geschrieben, „auch zum intellektuellen Abarbeiten“. Es geht um „das praktische Regieren in Deutschland“, im Frühjahr soll es erscheinen, Herder-Verlag, 250 Seiten. Seinen inneren Blick auf die Macht hat de Maizière in dieses Buch gelegt.
Nun hat er Spaß daran, wie er sagt, sein Leben wieder neu einzurichten. „Ich genieße es, neue Sachen zu machen.“Oder: „Es ist eine Last, die weicht.“Die Last, das war etwa auch der Spott über seine fragwürdige Kommunikation nach der Absage des Fußball-Länderspiels Deutschland–Niederlande in Hannover wegen Terrorverdachts im November 2015. Der Innenminister bat damals die „deutsche Öffentlichkeit um einen Vertrauensvorschuss“und erklärte: „Ein Teil dieser Antwort würde die Bevölkerung verunsichern.“Genau das hatte er erreicht: Verunsicherung. Auch unerfreulich.
Oder die Skandale, die ihn in seinen Ämtern in Bedrängnis brachten und unter Schlagworten wie „Sachsen-Sumpf“, „Drohnen-Affäre Euro-Hawk“oder „BND-NSA-Spionage“abrufbar sind.
In der Flüchtlingskrise 2015 geriet er wie Merkel auch unter Druck. Er stellte sich aber nie gegen sie, auch wenn er nicht alles teilte, wie sie es machte. Und er sprach nie öffentlich darüber. Ein treuer Diener.
Und erst kürzlich kam raus, dass de Maizière die Beamtin Eva Maria H. als Beauftragte des Innenministeriums in den Untersuchungsausschuss des Anschlags auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 2016 geschickt hat. H. sollte dafür Sorge tragen, dass keine brisanten Details an die Öffentlichkeit gelangen. Die wahre Brisanz: H. war vorher
„Wir haben nur noch fortissimo“Thomas de Maizière über die politische Kultur
beim Verfassungsschutz beschäftigt und mit dem Fall Amri vertraut. Nun verhinderte sie im Ausschuss möglicherweise, dass auch die Rolle des Geheimdienstes näher untersucht wird. „De Maizière gerät unter Druck“, stand in der Zeitung. Der frühere Minister entfernt sich von seinen früheren Themen, aber sie entfernen sich nicht von ihm.
Der Abgeordnete de Maizière sitzt inzwischen im Finanzausschuss. Als zurückhaltend und gut vorbereitet haben Kollegen seinen Auftritt dort beschrieben. „Der Finanzausschuss ist schön, es ist dort besonnen und sachlich. Und es ist ein ganz anderes Thema“, sagt er. Er hat wieder eine ganze Menge auf dem Zettel inzwischen: Telekom-Stiftung, Ehrenprofessur in Leipzig, „Zeit“-Kuratorium, Bucerius Law School, und um die Bildung im digitalen Zeitalter kümmert er sich auch.
Herbst 2018, die Bundesregierung droht wieder auseinanderzubrechen. Der Ex-Minister hat eine Tasse Tee vor sich, er wirkt ganz froh, nicht mehr an der politischen Front zu sein. Maß und Mitte gingen verloren, beklagt er. „Heute wird schnell von Staatsversagen gesprochen, auch wenn staatliche Stellen eine kritische Entwicklung nur begrenzt beeinflussen können oder nur eine einzelne Behörde Fehler gemacht hat. Unser Staat versagt nicht, er funktioniert“, mahnt er. Und: „Es gibt in der politischen Debatte kaum noch einen Unterschied zwischen piano und fortissimo. Wir haben nur noch fortissimo.“
Er selbst lässt es jetzt ruhiger angehen: „Wenn ich früher 150 Prozent gearbeitet habe, dann will ich mich jetzt auf 100 Prozent einpendeln.“Piano, piano!