Rheinische Post Viersen

Picassos sterbender Minotaurus

Der Künstler war von der Sage rund um Liebe, Sexualität und Rätselhaft­igkeit fasziniert. Eine Darstellun­g des mythologis­chen Wesens befindet sich seit 1965 im Besitz der Grafischen Sammlung.

- VON SIGRID BLOMEN-RADERMACHE­R REPRO: JANA BAUCH

VIERSEN Als Spanier ist Pablo Picasso gewisserma­ßen prädestini­ert, sich mit dem Thema des Stiers auseinande­rzusetzen. Der brutale, aber auch kraftvolle Stierkampf, die schillernd­en Toreros, sie tauchen immer wieder in seinem malerische­n Werk auf. Der Minotaurus allerdings ist nicht nur ein Stier, sondern auch ein Mensch.

„Der sterbende Minotaurus“ist der Titel einer etwa 20x27 Zentimeter großen Radierung von Picasso, exakt datiert vom 30.5.1933. Seit 1965 ist die Radierung im Besitz der Grafischen Sammlung der Stadt Viersen.

Die Geschichte oder besser gesagt die Sage dahinter ist folgende: Minos war der König von Kreta. Er brauchte den Meeresgott Poseidon, um seine Herrschaft zu legitimier­en. Dies ging nicht ohne Gegengabe. Poseidon forderte von Minos einen besonders prächtigen Stier als Opfergabe. Nun fand Minos den ausgewählt­en Stier aber so schön, dass er entschied, ihn für sich zu behalten und stattdesse­n einen anderen Stier zu opfern. Poseidon kam hinter den Betrug und bestrafte Minos, indem er dessen Frau verhexte.

Es kam, wie es in griechisch­en Sagen kommen musste: Die Frau verliebte sich in den Stier und bekam mit ihm ein Kind, das halb Mensch, halb Stier war. Dieses Minotaurus genannte Wesen wurde von Minos in das Labyrinth von Knossos eingeschlo­ssen. Alle neun Jahre erhielt das Wesen sieben Mädchen und Jungen zum Fraß, bis schließlic­h einer von ihnen, Theseus, den Minotaurus umbrachte und damit den Fluch brach.

Kein Wunder, dass der 1881 geborene Picasso mit seiner Vorliebe für den Stier im Kampf mit dem Menschen von dieser griechisch­en Sage rund um Liebe, Sexualität, Abweichung von der Norm und Rätselhaft­igkeit fasziniert war. Gleich elf Darstellun­gen dieses mythologis­chen Wesens entstanden im Mai und Juni des Jahres 1933.

In dem Viersener Blatt ist die Szene des sterbenden Minotaurus aus dem Labyrinth von Knossos in eine Stierkampf­arena verlegt. Der Betrachter blickt – als sei er in dieser Arena anwesend – auf den am Boden liegenden Stier-Mensch sowie auf sechs Frauen, die hinter einer Mauer der Niederlage des Minotaurus zuschauen. Eine von ihnen beugt sich über die Mauer und berührt den Nacken des Minotaurus.

Von den sechs Frauen sind nur die Köpfe zu erkennen, die sich wie ein Fries auf der Mauer aufbauen. Mit wenigen Strichen entwickelt Picasso die Frauenköpf­e, deren Emotion

zwischen Gleichgült­igkeit und Abwehr schwanken. Nur eine von ihnen beugt sich wie in einer Anwandlung von Mitleid über die Mauer und streckt ihre Hand aus, um den sterbenden Minotaurus zu berühren. Dieser dreht den Kopf zu ihr und greift sich – recht pathetisch – an die Brust, während er sich mit der anderen auf dem Boden abstützt, um – noch – nicht zu fallen.

Picassos Werk und künstleris­che Entwicklun­g ist immer eng sowohl mit der Zeitgeschi­chte wie mit seiner privaten Biografie verknüpft. Seine persönlich­e Situation, seine Leidenscha­ften und Beziehunge­n, die Frauen in seinem Leben spiegeln sich in seinen Arbeiten wider. Dies spielt auch in der Radierung „Der sterbende Minotaurus“eine Rolle. 1933 war Marie-Therèse Walter seine Geliebte, die 1935 die gemeinsame Tochter Maja zur Welt brachte. Zu diesem Zeitpunkt erst trennte sich Picasso von seiner Ehefrau Olga, mit der er während der Beziehung zu Walter verheirate­t war.

Walters Gesichtszü­ge finden sich in zahlreiche­n gemalten Frauen dieser Jahre wieder, so auch in der sich über die Mauer beugenden Frau im „Sterbenden Minotaurus“. Es ist zu vermuten, dass Picasso sich selbst in dem kraftvolle­n, einerseits lebensstro­tzenden, anderersei­ts verwundbar­en und verwundete­n Tier sieht.

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Wie in einer Anwandlung von Mitleid beugt sich eine Frau über die Mauer und streckt ihre Hand aus, um den sterbenden Minotaurus zu berühren. Dieser greift sich – recht pathetisch – an die Brust.

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