In abgeschlossenen Hörkabinen überlässt man sich ganz den Polonaisen und Mazurkas
Wenn Polen miteinander reden, dann hört man häufig den Buchstaben „I“und jede Menge Zischlaute. Kompliziert wird es auch, wenn sie Fremde begrüßen, die sie für Einheimische halten. Wer dann verzweifelt schaut, erntet ein fröhliches Lachen. Englisch sprechen anscheinend die wenigsten Polen, was allerdings kein Hindernisgrund ist, Warschau auf eigene Faust zu entdecken. Polens Hauptstadt macht es den Gästen leicht mit ihren breiten Boulevards und großen Plätzen, auf denen sich Besucher aller Nationen tummeln.
Deutsche Soldaten hatten die Stadt im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört, das Königsschloss in die Luft gesprengt, die Altstadt und überhaupt das ganze barocke Ensemble am Ufer der Weichsel dem Erdboden gleichgemacht. Kunstfertige polnische Handwerker beseitigten bereits in den 1950er Jahren die Spuren. Wie der berühmte Phoenix ist Warschau der Asche entstiegen, in der es im Zweiten Weltkrieg fast versunken war: Die Altstadt wurde so penibel wiederaufgebaut, dass die Unesco sie 1980 zum Weltkulturerbe erklärte.
Heute genießen Touristen dort unter weißen Sonnenschirmen eine kalte Suppe (Chlodnik). Oder sie durchwandern die Straßen, die Fußgängern vorbehalten sind – meist mit einem knallbunten Lody (Eis) in der Hand, das es an jeder Straßenecke gibt. Die Patina, die die Häuser mittlerweile angesetzt haben, lässt vergessen, dass sie erst seit ein paar Jahrzehnten hier stehen. Italienische und spanische Gruppen kommen mit ihrem Reiseführer vorbei und machen Fotos.
Das Königsschloss leuchtet in einem satten Weinrot und strahlt von Innen im alten Glanz. In einer der Ausstellungen, die darin gezeigt werden, hängen Ölgemälde von Bernardo Bellotto, genannt Canaletto – und zeigen eine vergangene Welt barocker Eleganz: mit beschwingter Leichtigkeit und Harmonie sind die hellen Gebäude komponiert, Erinnerungen an das historische Dresden werden wach. So ähnlich muss Warschau einst gewirkt haben. Menschen mit Puderperücken wandelten über Kopfsteinpflaster und Kutschen rollten vor der Heilig-Kreuz-Basilika entlang, in der seit mehr als 150 Jahren das Herz des Komponisten Frederic Chopin eingemauert ist.
Chopin, immer wieder Chopin. In der Altstadt wird jeden Abend um 18 Uhr irgendwo ein Konzert mit seinen Kompositionen gespielt, Coffeeshops schmücken sich mit seinem Namen, Postkarten und Poster zeigen sein schmales Konterfei im Profil. Auch wenn sein Name französisch klingt und er viele Jahre in Paris gelebt hat, so sind die Polen doch sehr stolz auf ihren berühmten Sohn. Nicht zuletzt hat er selbst verfügt, dass zwar sein Körper in Frankreich begraben werden sollte, sein Herz jedoch gehöre nach Warschau.
Jedes Jahr befasst sich ein großes Musikfestival mit Chopin und seinem Europa. In Wettbewerben zeigen junge Musiker ihr Können auf neuen und historischen Flügeln – mit seiner Musik. Die erklingt auch, wenn die Gäste auf Marmorbänken im Stadtzentrum Platz nehmen und einen Knopf drücken. Ein QR-Code am Rand der Bank führt zu einer App, die die Besucher auf den Spuren des Komponisten durch die Stadt wandeln lässt.
Durch und durch multimedial gibt sich auch das Chopin-Museum: Am Eingang erhält man eine Art Scheckkarte, mit deren Hilfe an verschiedenen Stationen Informationen über das Leben des Komponisten abgerufen werden können. In abgeschlossenen Hörkabinen überlässt man sich ganz den Polonaisen und Mazurkas.
Kunst in Warschau muss allerdings nicht aus dem 19. Jahrhundert stammen, selbst wenn sie in einem Palast untergebracht ist. Das zeigt sich am Beispiel der Galerie Zacheta: Ausstellungen über Tattoos stehen dort im krassen Gegensatz zur barocken Architektur der Umgebung. Gleich nebenan: der Pilsudski-Platz, dessen fußballfeldgroße Ausmaße klar machen, dass militärische Aufmärsche in Polen keine Seltenheit sind.
Die Stadt boomt. Ein Luxushotel nach dem nächsten öffnet seine Pforten, zuletzt vor wenigen Monaten das Indigo Warsaw. Der Phoenix putzt sich weiter heraus.