Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Wilhelm IV., um 1835, guter Zustand, dachte Wera automatisch. Für sich selbst hatte er das gegenüberliegende Sofa reserviert. Es sah frisch gepolstert aus.
„Behandelt man Sie gut in Trinity, Wera?“
„Man hat mir das Zimmer von Kim Philby gegeben.“
Hunt schien davon nicht überrascht zu sein. Vielleicht war es in seinen Kreisen üblich, im Zimmer eines legendären KGB-Agenten zu übernachten.
„Sie kennen ja das berühmte Churchillzitat“, sagte Hunt. „,Wir formen unsere Gebäude, und sie formen uns.’ Es macht einen Unterschied, ob man in lichten Räumen mit hohen Decken lebt oder in Dachkammern vegetieren muss, wie Heerscharen von Dienstboten es bis in die 1950er-Jahre hinein taten.“
Wera konnte sich nicht vorstellen, dass Professor Hunt jemals eine Dachkammer betreten hatte. Dieses Collegezimmer schien sein angestammtes Habitat zu sein. Sie kam nicht dazu, ihm zu sagen, dass er in dem schönsten Büro arbeitete, das sie je gesehen hatte. Er war schon einen Schritt weiter:
„Um das Unangenehme gleich zu klären, Wera. Ich halte nicht viel von Ihrem Kim-Philby-Thema. Sie wollen eine Biografie schreiben, und kein Mensch unter vierzig sollte jemals versuchen, so etwas zu tun. Noch schwieriger ist das Genre Spionage. Spionagegeschichten sind amüsant in Romanen, aber eine wissenschaftliche Aufarbeitung ist so gut wie unmöglich. Regierungen haben ihre Geheimnisse, doch sie müssen sie dokumentieren, und irgendwann, nach dreißig oder fünfzig Jahren, enden die Sperrfristen. Geheimdienste haben diese Sperrfristen nicht. Sie dokumentieren nicht die Fakten für die Nachwelt, sondern verstecken sie so gut wie möglich, so lange wie möglich. Das macht die Arbeit eines Historikers fast unmöglich.“
Die schnelle Überleitung von der Teezubereitung zum Arbeitsgespräch hatte Wera aus dem Konzept gebracht. Sie versuchte mitzukommen: „Es gibt aber doch freigegebenes Material und gute Standardwerke darüber, offizielle Geschichten des MI5, MI6 . . .“
Hunt machte eine ungeduldige Handbewegung. „Seit wann sind solche Institutionsgeschichten von ernsthaftem wissenschaftlichen Wert? Der Auftraggeber zahlt und bestimmt. Was würden Sie sagen, wenn ich alle entscheidenden Dokumente über eine Institution in einen Hochsicherheitstrakt einsperre und Ihnen dann den Auftrag gebe, über diese Institution zu schreiben? Meine Bedingung wäre, dass ich allein entscheide, welche Dokumente Sie einsehen dürften. Der Rest bliebe im Hochsicherheitstrakt. Das nennt man Manipulation.“
„Ein Historiker hat doch selten alle Dokumente zur Hand, er muss immer mit Lücken arbeiten.“
Hunt ließ das nicht gelten. „Ein Historiker muss frei sein. Er wird nie frei von sich selbst und seinen Vorurteilen sein, aber er darf nicht von Anfang an das Opfer von selektiv vorsortierten Quellen sein.“
„In meinem Fall sind doch viele Quellen zugänglich, Akten über Kim Philby sind von der britischen Regierung freigegeben worden .“
Hunt fing an, mit seinem linken Bein zu wippen. Wera hatte einen Moment lang die Sorge, er könnte aufspringen und gehen. Er redete jetzt schneller. „Seine MI6-Personalakte ist nicht freigegeben worden. Und was ist mit dem russischen Material über ihn? Sie kennen den Mann aus einer Perspektive – der westlichen. Die Quellen, die Sie zur Verfügung haben, bleiben fragwürdig.“
Das Tempo war zu schnell für sie. Zu ihrem Ärger musste sie feststellen, dass ihre Stimme wieder höher wurde. Sie klang jetzt wie eine aggressiv piepsende Maus: „Sie teilen also die Arroganz von Historikern, die es für drittklassig halten, sich mit einem schmutzigen Geschäft wie der Spionage zu beschäftigen?“
Er lachte. „Schmutzig kann man sich überall machen. Die größere Gefahr ist es, am Ende wie ein manipulierter Idiot dazustehen.“
Sie fing an zu verstehen, was er mit ihrer Vorgängerin gemacht hatte. Sie wollte auf keinen Fall in einem ähnlichen Zustand wie dieses Mädchen die Treppe hinunterrennen.
„Wenn das alles nicht machbar ist, warum haben Sie mich dann als Doktorandin angenommen?“
„Ich will, dass Sie mich widerlegen.“
„Ist das Ihr Ernst?“
„Warum nicht? Sie scheinen intelligent genug zu sein.“
Jetzt verlor sie die Geduld. „Sie sind ein Professor mit einem Wissensvorsprung von vierzig Jahren, wie soll das ein faires Spiel werden?“Hunt lächelte.
„Sie scheinen genug Mut für so ein Spiel zu haben, Wera. Die meisten Studenten suchen sich triviale Themen aus, die kein normaler Mensch ernst nehmen kann – die Geschichte der Eiscreme oder des Fußpilzes im siebzehnten Jahrhundert. Aber wir sind hier nicht an der Universität Trier. Wir sind in Cambridge. Entweder Sie fangen an zu denken, oder Sie gehen wieder nach Trier.“
Sie merkte, wie die Wut in ihr aufstieg. Jetzt fehlte nur noch, dass sie rot anlaufen würde.
„Ich komme nicht aus Trier!“„Dann benehmen Sie sich auch nicht wie eine Triererin. Was glauben Sie, warum ich Sie angenommen habe? Weil ich an Ihren bisherigen Arbeiten gesehen habe, dass Sie Potenzial haben. Sie sind nicht das polierte Produkt wie die Etonabsolventen, die mit achtzehn ihren Höhepunkt bereits überschritten haben. Sie haben eine Entwicklung vor sich. Es könnte eine interessante Entwicklung werden.“
Hunt nahm einen Schluck aus seiner Teetasse und schaute an ihr vorbei.
„Laut Ihres Lebenslaufs sind Sie die Tochter eines Antiquitätenhändlers. Was halten Sie von meinen Möbeln?“
Wera verstand jetzt gar nichts mehr. Was wollte der Mann? Komplimente für seinen guten Geschmack? Sie würde ihm den Gefallen nicht tun.
„Es sind ein paar gute Stücke dabei.“
„Sehen Sie Fälschungen?“
„Mit dem Stuhl da drüben stimmt etwas nicht. Er soll wohl Queen-Anne-Stil sein, aber die Beine sind meines Erachtens aus einer späteren Periode.“
Hunt nickte. „Und als Sie vorhin hereinkamen, da wussten Sie instinktiv, dass etwas mit dem Stuhl nicht stimmt?“
„Ja.“