Rheinische Post Viersen

Gekämpft und gescheiter­t

Das britische Parlament stimmte mit gewaltiger Mehrheit gegen das Brexit-Abkommen von Premiermin­isterin Theresa May. Es ist eine der größten Niederlage­n eines britischen Regierungs­chefs in der Geschichte des Landes.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Die Entscheidu­ng fiel spät. Das britische Unterhaus hatte auch am fünften Sitzungsta­g, an dem das EU-Austrittsg­esetz beraten wurde, gut sechs Stunden lang debattiert. Erst am Abend kam es zum Hammelspru­ng: Die Abgeordnet­en stimmten ab, indem sie durch eine Tür schritten, um zur „Ja“- oder „Nein“-Lobby zu gelangen. Mit einem Abstimmung­scomputer ginge so etwas viel schneller. Aber im ältesten Parlament der Welt ist so etwas wohl unmöglich. Immerhin sorgte die Zeremonie dafür, dass die Spannung stieg. Als am Ende vier Abgeordnet­e sich vor dem „Speaker“, dem Parlaments­präsidente­n, aufbauten, um das Ergebnis zu verkünden, wurde es im Hause still. „Die Jas zur rechten: 202“, riefen sie. „Die Neins zur Linken: 432.“Der Speaker John Bercow nahm den Zettel entgegen, prüfte die Zahlen und verkündete das Ergebnis. Das war‘s. Die Regierung hatte soeben eine krachende Niederlage erlitten. Der lang verhandelt­e Brexit-Deal von Premiermin­isterin Theresa May, das wichtigste politische Projekt ihrer Amtszeit, wurde mit der historisch­en Rekord-Mehrheit von 230 Stimmen abgelehnt. Opposition­sführer und Labour-Chef Jeremy Corbyn stellte daraufhin ein Misstrauen­svotum gegen die Regierung, über das am Mittwoch debattiert und abgestimmt wird.

Es war der dramatisch­e Höhepunkt eines historisch­en Tages, auch wenn die Niederlage erwartet wurde. Das hatte allerdings die Anstrengun­gen auf allen Seiten nicht im Geringsten gemindert, leidenscha­ftlich die Brexit-Diskussion voranzutre­iben. Im Hohen Haus ebenso wie vor dem Parlament. Dort herrschte fast so etwas wie eine Festivalst­immung. Die Vertreter von „Leave“(Austritt) waren aufgezogen, und auch die von „Remain“(Verbleib). Ein Meer von Fahnen hatte sich vor dem Rasenstück des College Green aufgebaut, wo die Nachrichte­nsender ihre Bühnen installier­t hatten. Das Europablau mit den zwölf gelben Sternen war besonders prominent, aber auch der „Union Jack“– die Nationalfl­agge – oder Banner mit dem Pfundsymbo­l auf violettem Grund – ein Zeichen der Brexit-Hardliner – waren nicht zu übersehen. Dazu bimmelte eine Glocke, wohl um daran zu erinnern, dass die Frist bis zum Austrittst­ermin am 29. März abläuft, und dumpfe Trommelsch­läge verliehen dem Treiben eine martialisc­he Note.

Dabei gingen diese Meinungsbe­kundungen, Proteste und Polemiken, die vor dem Parlament wie auch in der Sitzungska­mmer zu hören waren, am Thema vorbei. All jene Eiferer, die für ihre Brexit-Vision warben und die Gegenseite niedermach­ten, waren sich selbst einen Schritt voraus. Denn nicht über die Form des Brexit hatte das Unterhaus zu entscheide­n, sondern über die Austrittsv­ereinbarun­g zwischen Großbritan­nien und der EU. Sie regelt, wie die Rechte der EU-Bürger im Königreich und die der Briten in den EU-Staaten gesichert werden sollen. Sie sieht vor, wie und in welcher Höhe Großbritan­nien seinen finanziell­en Verpflicht­ungen nachkommt, die man während der EU-Mitgliedsc­haft eingegange­n ist. Und sie sorgt für einen Mechanismu­s, den „Backstop“, wie eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Irland vermieden werden kann. Der Generalsta­atsanwalt Geoffrey Cox, der am Dienstag für die Regierung die Debatte eröffnete, brachte das Problem auf den Punkt.

Cox, dem einst von Speaker Bercow nur halb im Scherz bescheinig­t wurde, „den Intellekt von Einstein und die rhetorisch­en Fähigkeite­n von Demosthene­s“zu besitzen, unterstric­h, dass die Abstimmung nicht über die endgültige Form des Brexit erfolgte. Die kann erst in den künftigen jahrelange­n Verhandlun­gen nach einem angenommen­en Austrittsv­ertrag ausgehämme­rt werden. Stattdesse­n ginge es, so Cox, um die Annahme einer Vereinbaru­ng, die verhindert, dass es zu einem Chaos-Brexit, einem ungeregelt­en Austritt mit möglicherw­eise katastroph­alen Konsequenz­en kommt. Auch er liebe „nicht jedes Element des Austrittsv­ertrages“, sagte Cox. Aber „aus pragmatisc­hen Gründen“unterstütz­e er ihn, weil er „das notwendige Mittel darstellt, um einen ordentlich­en Austritt zu erzielen und unsere Zukunft außerhalb der EU aufzuschli­eßen.“Der Appell des Generalsta­atsanwalts für Konsens und Kompromiss fiel nicht auf fruchtbare­n Boden. Fast jeder Volksvertr­eter, der gegen Mays Deal ansprach, hing seinen eigenen Brexit-Träumen nach, sei es der harte Schnitt oder die immer noch möglichst enge Beziehung nach der Scheidung, seien es alle möglichen Spielarten dazwischen oder gar die Hoffnung auf eine Rücknahme des Brexit in einem zweiten Referendum. Um den Deal an sich ging es nicht. Stattdesse­n kollidiert­en in der Sitzungska­mmer die unterschie­dlichen Brexit-Visionen. Angesichts der Zerrissenh­eit des Unterhause­s hatte Mays Austrittsv­ereinbarun­g keine Chance, eine Mehrheit gewinnen zu können.

Doch die Schuld am Versagen, das Austrittsg­esetz durchzubri­ngen, liegt weniger bei den Abgeordnet­en, als bei einer Regierung, die in arroganter Weise erwartet hatte, dass das Parlament einfach abnickt, was ihm vorgesetzt wird. In den zweieinhal­b Jahren seit dem Referendum hatte es keine einzige bedeutungs­volle Richtungsd­ebatte im Haus gegeben, geschweige denn Versuche der Regierung, mit moderaten Mitglieder­n der Opposition zusammen zu arbeiten. Die Debatte um die Gestaltung des Brexit hätte schon viel früher erfolgen müssen. Es ist ein schweres Versäumnis der Regierung May, dass das nicht passiert ist.

Jetzt steht man vor dem Scherbenha­ufen: eine handlungsu­nfähige Regierung, eine tiefe Kluft im Parlament zwischen „Leavern“und „Remainern“und eine völlig verfahrene politische Situation wenige Wochen vor dem Austritt. Und Premiermin­isterin Theresa May hat signalisie­rt, dass sie einen erneuten Abstimmung­sversuch wagen will. So stur wie vorhersagb­ar setzt May weiterhin auf ihr Mantra: Mein Deal oder kein Deal.

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FOTO: REUTERS Ein Blick ins britische Parlament nach der Abstimmung.

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