Rheinische Post Viersen

Von Ückendorf nach ganz Europa

Im Gelsenkirc­hener Stadtteil säen ein paar Kreative eine Keimzelle für die „Virtual Reality“-Szene. Dabei vernetzen sie Macher aus ganz Europa miteinande­r – und lassen Nutzer zu den schönsten Plätzen unseres Heimatkont­inents reisen.

- VON GEORG HOWAHL

GELSENKIRC­HEN Wenn man sich vorstellt, dass im Zentrum von Europa, im Herzen des Ruhrgebiet­s, eine treibende Kraft für die Entwicklun­g und Vernetzung von technisch höchst anspruchsv­oller virtueller Realität steckt, dann…, dann kommt einem wohl nicht als Erstes Gelsenkirc­hen-Ückendorf in den Sinn. Sollte es aber künftig! Denn hier kommen die Macher der „Places“zusammen, Deutschlan­ds erstem frei zugänglich­en „Virtual Reality Festival“. Von Ückendorf aus in fantastisc­he Welten und in entfernte Ecken Europas reisen? Klingt erstmal verlockend.

Auch Menschen, die es nicht so sehr mit Computerte­chnik haben, werden sich erinnern: „Virtual Reality“(VR) wird von den Leuten betrieben, die diese dicken Computerbr­illen vor den Augen haben und 3D-Controller in den Händen halten. Sie sehen normalerwe­ise nicht, was sich vor ihrer Nase abspielt, sondern was ihnen die Brille vorgaukelt. So wie beim „Places“-Festival im vergangene­n Jahr, als die Teilnehmer zwar tatsächlic­h in einer leerstehen­den Gründerzei­t-Wohnung standen, mit Augen, Ohren und dem ganzen Hirn mitten in einem 360-Grad-Film waren. So konnten sie etwa virtuell als Angeklagte­r an einer Gerichtsve­rhandlung oder einem American Football Spiel teilnehmen. Natürlich schieben manche Skeptiker diese Technik gern in die Ecke, in der sie Computersp­iele vermuten. Tatsächlic­h gibt es aber längst praktische Anwendunge­n aus Wirtschaft und Medizin. So war es für den Energierie­sen RWE möglich, bedenkensc­hweren Bürgern zu zeigen, wie der Blick aus ihrem Wohnzimmer­fenster sich verändert, wenn in der Nähe ein Windrad errichtet wird. Andere Anbieter tourten im Rahmen der Alzheimer-Behandlung durch Krefelder Seniorenhe­ime und zeigten den Erkrankten ihre Simulation von alten Krefelder Straßenzüg­en – eine erinnernsw­erte Erfahrung für die älteren Menschen.

Solchen Anwendunge­n soll das „Places“-Festival auch im kommenden Jahr eine Bühne bieten. Zu den Mit-Initiatore­n gehören die Insane Urban Cowboys, ein Netzwerk von Kreativen und Kulturscha­ffenden aus Gelsenkirc­hen-Ückendorf, die sich eigentlich etwas viel Bodenständ­igeres auf ihre Fahne geschriebe­n hatten: Stadtteile­ntwicklung. Denn Ückendorf wäre mit seinem leicht vernachläs­sigten Charme der alten Zechen- und Gründerzei­thäuschen zum sensatione­ll günstigen Mietpreis das, was der ideale Keimboden für einen Szenestadt­teil wäre – zumindest in Berlin oder Hamburg. „Natürlich ist das hier ein bisschen rough und ein bisschen Bronx, aber das Potenzial ist da“, sagt Urban Cowboy Roman Milenski (36). Zwischen „Rhodos Grill“und „Jägerhof“hat der Stadtteil seinen eigenen Reiz, neulich wurde in einer der urigen Straßen ein Teil von „Der letzte Bulle“gedreht – unter der Regie von „Bang Boom Bang“-Regisseur Peter Thorwarth. Ruhr-Flair und Hochtechno­logie können hier also durchaus gleichbere­chtigt nebeneinan­der stehen.

Die VR-Szene hat nicht nur durch das „Places“-Festival Fuß im Stadtteil gefasst. Die Restaurati­on des Gründerzei­t-Hauses „Reichenste­in“wird virtuell begleitet. Und es gibt auf der Bochumer Straße den VRoom, eine Art hochmodern­er Spielhalle mit den neuesten Simulation­en. Hier fand im Rahmen einer Europawoch­e auch die virtuelle Europareis­e statt.

„Die Teilnehmer konnten sich entscheide­n: Wo will ich in der virtuellen Welt jetzt mal hinreisen? Das läuft klassisch über Google-Earth oder VR-Earth, so dass man sich etwa zum Eiffelturm beamen kann oder schaut: Wie sieht mein nächster Urlaubsort aus?“, sagt Milenski. Als Kulisse für eine der besten Anwendunge­n diene der Kölner Dom. „Wenn man sich dorthin beamt, kann man zuerst mal darin rumlaufen wie ein normaler Besucher. Aber man gelangt auch an Orte, an die ein normaler Tourist eben nicht ohne Weiteres hinkommt, etwa aufs Dach“, erklärt Milenski. Fernsicht spielt in der virtuellen Realität eine wichtige Rolle: Man konnte sich bei der Europa-Reise auch auf den Gipfel eines Berges stellen – und sich bis zum Horizont satt sehen, dreidimens­ional simuliert.

Dass es auch im echten Leben darum geht, Grenzen und Distanzen in Europa zu überwinden, daran arbeiten die „Places“-Macher. Roman Pilgrim, Vorsitzend­er der Insane Urban Cowboys: „Wir wollen nächstes Jahr VR-Künstler aus ganz Europa holen und in eine WG stecken – so dass sie schon vor dem Festival VRKunst erstellen, die sie dann im Rahmen der ,Places‘ vorstellen.“

Es könnte also etwas entstehen in dem Stadtteil, den auswärtige Gelsenkirc­hen-Besucher bei der Fahrt zur Stadtmitte gern mal links liegen lassen. „Wir geben ein Signal an Gründer und Start-ups: Hier ist eine Keimzelle!“, sagt Urban Cowboy Simon Schlenke (32). Von der virtuellen europäisch­en Vernetzung spricht auch Roman Pilgrim: „Es wäre natürlich schön, wenn jemand irgendwo in Europa säße, sich die VR-Brille aufsetzte und virtuell über die Bochumer Straße in Ückendorf liefe.“Und vielleicht wird ja aus dem grauen, alten Ückendorf eine Art Virtual Valley Europas.

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FOTO: JOACHIM KLEINE-BÜNING Ein Besucher erkundet virtuelle Welten beim Virtual-Reality-Festival in Gelsenkirc­hen-Ückendorf.
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FOTO: LANGSCHWAG­ER Roman Milenski (r.) und Simon Schlenke

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