Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Er schien sie als eine Art Ausgangspunkt zu sehen, als hätte damit alles angefangen und als würde er seitdem permanent von allen hintergangen. Er glaubte an eine Kontinuität des Verrats.
Obwohl es jetzt endlich vorbei war, fühlte sie immer noch die Anspannung. Sie versuchte zur Ablenkung ein paar Zeitungen durchzuarbeiten. Das war nicht ihre Aufgabe, die Auswertung von offenen Quellen erledigten andere, aber sie wollte zumindest gut informiert sein. Sie übersprang die Berichte über den Mord. Auch die langen Artikel über die Erinnerungsfeierlichkeiten zum Ersten Weltkrieg interessierten sie nicht. Seit Wochen berichteten die britischen Medien über kaum etwas anderes. Die ganze Nation warf sich mit wahrer Wucht in eine Mischung aus Trauer und Siegesfeier. Es war ein einziger patriotischer Gefühlsrausch, jeder schien demonstrieren zu wollen, wie ergriffen er war. Sie fand es ekelhaft.
Es dauerte eine Weile, bis sie endlich auf einen interessanteren Artikel stieß: Verteidigungsministerium warnt vor Sexreisen nach Russland.
Laut dem Artikel schien das britische Verteidigungsministerium seit einiger Zeit stark beunruhigt zu sein. Es wies alle seine Mitarbeiter an, unter keinen Umständen irgendwelche Kontakte mit attraktiven Frauen aus China und Russland aufzunehmen. Vor allem die chinesischen Nachrichtendienste hätten einen „unstillbaren Hunger auf jede Art von Informationen – politische, militärische, kommerzielle, wissenschaftliche und technische“. Ihr Konzept sei es, langfristig Freundschaften mit westlichen Geschäftsleuten und Amtsträgern aufzubauen. Laut dem Artikel spezialisierten sie sich nicht auf Agentenführung, sie schafften sich „Freunde“.
Zu diesem Zweck existiere, neben den professionellen chinesischen Nachrichtendienstlern, mittlerweile ein Heer von ganz normalen Chinesen, die Informationen weiterleiten würden. Diese ganz normalen Chinesen wären vor allem Studenten und Geschäftsleute. Sie würden langfristig an ihren westlichen Kontakten arbeiten, Interesse an China wecken, an seiner Kultur und seiner Geschichte, und wären, laut Sunday Times, „Könner auf dem Gebiet der Schmeichelei“. Hinter all dem Aufwand stünden klare Ziele. Von besonderem Interesse für die Chinesen sei zurzeit der britische F-35-Kampfjet:
„Die Chinesen wollen nicht mehr einfach nur Technologien stehlen, sie wollen ein genaues Wissen über die Produktionsschritte in Erfahrung bringen. Das bedeutet einen schweren wirtschaftlichen Schaden für Großbritannien.“
Sie musste darüber lächeln. Es war wirklich nichts Neues, sie taten es doch alle seit Jahrzehnten – Chinesen, Russen, Amerikaner. Im Grunde war das Thema so alt wie der Beruf des Spions. Auch ihr großes Vorbild Kim Philby hatte damit zu tun gehabt. Zwei seiner Kollegen aus der Cambridgegruppe, John Cairncross und Donald Maclean, hatten zusammen mit anderen Agenten eines der wichtigsten Kriegsprojekte an die Russen weitergegeben, das Manhattan-Projekt, den Bau der Atombombe. Es war eines ihrer größten Verdienste gewesen, und die Sowjetunion war ihnen und ihren Mithelfern bis heute dankbar dafür. Der Artikel erwähnte diesen berühmtesten Spionagefall natürlich nicht, aber er warnte auch vor russischer Spionage. Anders als die Chinesen würden die Russen altmodischere Methoden bevorzugen. Dem Artikel zufolge war die alte Honeytrap, die Sexfalle, jetzt wieder im Einsatz. Als Beispiel wurde die Geschichte eines hochrangigen britischen Militärs angeführt. Auf einer Konferenz in St. Petersburg war er von einer „unglaublich attraktiven Blondine Anfang dreißig“angesprochen worden. Sie sei sehr sympathisch gewesen, habe über seine Witze gelacht – anscheinend passierte ihm das selten – und ihm von ihrem großen Hobby erzählt: dem Sammeln von Oldtimern. Zufälligerweise waren Oldtimer auch das Hobby dieses Militärs, der daraufhin misstrauisch wurde. Welche normale Frau interessierte sich schon für alte Autos? Die Geschichte klang so dumm, sie hätte am liebsten die Zeitung zerrissen. So plump arbeiteten sie nicht. Natürlich schliefen die Kollegen immer noch mit Zielpersonen, aber die Anbahnung verlief um einiges subtiler. Darin waren sie immer noch unschlagbar.
23- Januar 2015 Professor Hunts Haus Jubilee Avenue Newnham
Die Journalisten hatten die Belagerung auf gegeben und ihre Zelte an interessanteren Krisenorten aufgeschlagen. Für Anne Winter war es daher kein Problem gewesen, unerkannt in Hunts Haus zu kommen.
„Wieso ist er ausgerechnet in deinem Collegezimmer ermordet worden, Hunt?“, fragte Anne.
„Weil es die beste Aussicht auf den Cam hat?“
„Das ist nicht witzig!“
„Was erwartest du von mir? Ich habe keine Ahnung, warum.“
Er würde ihr auf keinen Fall etwas von der Einladungskarte in Stefs Mülleimer erzählen. Wenn jede Frau, mit der er in Cambridge geschlafen hatte, ihm in den nächsten Wochen die Frage nach seinem Zimmer stellen würde, könnte es unangenehm werden. Vielleicht lag es daran, dass sie alle sein Collegezimmer sehr gut kannten. Er hatte sich dort oft mit seinen Freundinnen verabredet, und sie schienen ganz offensichtlich sentimentale Erinnerungen mit dem Ort zu verbinden. Diese Irrationalität erinnerte ihn an seine Exfrau, die es aus irgendeinem unerfindlichen Grund besonders aufgeregt hatte, dass er sie irgendwann einmal auch im gemeinsamen Ehebett betrogen hatte. Er hatte das Gewese darum nie verstanden. War es nicht egal, wo es stattfand? War die Tat nicht entscheidender als der Ort? Aber Frauen dachten in diesem Punkt irrational. Der Ort schien ihnen heilig zu sein. An bestimmten Orten durfte man keinen Sex haben und natürlich auch keinen Toten finden. Es war lächerlich. Er versuchte Anne langsam auszuziehen, aber sie redete immer noch.
„Der Master sagt, du hast das Opfer gut gekannt.“
Der BH-Verschluss schien zu klemmen.
„Ja, natürlich habe ich Stef gekannt. Aber ,Master Denys’ kannte ihn sehr viel besser. Nachdem man Stef aus der Uni warf, war Denys rührend um ihn bemüht.“
Anne half ihm mit dem Verschluss. „Und was war falsch daran?“
„Du glaubst, Denys macht irgendetwas ohne einen Hintergedanken? Der Mann ist ein Opportunist.“
„Nur weil ihr politisch nicht einer Meinung seid . . .“
(Fortsetzung folgt)