Auch Frankreich streitet übers Tempolimit
PARIS Edouard Philippe steht neben einem blauen Bildschirm voller Zahlen. Ein Reha-Zentrum südöstlich von Paris hat sich der Premierminister ausgesucht, um die Zahl der Verkehrstoten 2018 bekannt zu geben. Der Regierungschef macht das selbst, denn es geht um eine Maßnahme, die er gegen jede Kritik verteidigt: Tempo 80 auf zweispurigen Landstraßen. Nach der Einführung vor einem guten halben Jahr zieht Philippe nun Bilanz: „Das sind historische Ergebnisse. Es gab noch nie so wenig Tote auf den französische Straßen“, verkündet er. Zwar starben 3259 Menschen im vergangenen Jahr bei Verkehrsunfällen, doch die Zahl der Toten ging vor allem im zweiten Halbjahr zurück. 116 Menschenleben seien durch die neue Obergrenze gerettet worden, rechnet Philippe vor.
Die Gegner von Tempo 80 überzeugt der frühere Konservative mit seiner Statistik nicht. Laut einer Umfrage sind 78 Prozent der Franzosen dagegen, dort statt 90 nur noch 80 zu fahren. Etwa ebenso viele sind der Ansicht, dass die Begrenzung von oben herab entschieden wurde, ohne auf die Bedürfnisse der Betroffenen zu achten. Berechnungen der Verkehrssicherheitsbehörde, dass Autofahrer bei einer Strecke von 39 Kilometern mit Tempo 80 nur eine Minute und 32 Sekunden länger brauchen als vorher, überzeugen auf dem Land kaum jemanden.
Die Landbevölkerung hat in den „Gelbwesten“, die seit Mitte November gegen die Regierung protestieren, lautstarke Fürsprecher gefunden. Die Bewegung begann als Initiative empörter Autofahrer, die sich gegen die Erhöhung der Ökosteuer auf Benzin wehrten. Die „Gilets jaunes“besetzten nicht nur zahlreiche Verkehrskreisel und Mautstellen, sondern zerstörten auch massenweise Radaranlagen. 60 Prozent aller mehr als 3000 Blitzer sind laut Innenministerium nicht mehr intakt. Sie wurden übermalt, angezündet oder mit Plastiktüten zugeklebt.
Die Erhöhung der Ökosteuer ist inzwischen vom Tisch und auch bei der Geschwindigkeitsbegrenzung, die zwei Jahre lang getestet werden sollte, könnte die Regierung dem Druck der „Gelbwesten“nachgeben. Emmanuel Macron öffnete dafür vergangene Woche eine Hintertür, als er vor mehreren Hundert Bürgermeistern sagte: „Wir müssen zusammen eine klügere Art der Umsetzung finden. Es gibt kein Dogma.“Die beiden Sätze waren ein Schlag ins Gesicht von Philippe, dem Spannungen mit dem Präsidenten nachgesagt werden. Wohl eher erzwungenermaßen deutete der Regierungschef am Montag an, dass er nicht mehr blind an Tempo 80 festhält. Im Februar will er die Zahl der Verkehrstoten in jedem der 101 Départements veröffentlichen, damit dann die Lokalpolitiker ihrerseits Vorschläge für ein Tempolimit auf ihren Straßen machen können.