Cambridge 5 – Zeit der Verräter
0. Februar 2015 National Archives London
Jasper saß vor einem Karton voller Papiere und verfluchte David. Warum musste der Kretin ausgerechnet jetzt mit Polina Schluss machen? Sie war die Einzige gewesen, die ihnen mit den Mitrochin-Papieren helfen konnte. Aber seitdem David auf Wera umgeschwenkt war, wollte Polina mit niemandem mehr sprechen. Nicht einmal mit ihm. Dabei hatte er ja nun wirklich nichts mit dieser überflüssigen Beziehungsgeschichte zu tun. Er hatte David ganz sicher nicht dazu geraten, die Frauen zu wechseln. Wenn er eines in seinem Leben gelernt hatte, dann, dass man mit guten Freunden niemals Sex haben durfte. Sex mit Fremden war ungefährlicher. Und sie verlangten am nächsten Tag auch kein Frühstück.
Jasper schaute auf den großen Karton voller Akten. Das Monstrum war seine zweite Chance, gutes Material für seine Dissertation zu finden. Zugegebenermaßen keine besonders große. Vielleicht eher eine Hoffnung als eine Chance.
Er war auf die Idee gekommen, nachdem er die Enthüllungen über den berühmten Autor John le Carré auf einer Website gelesen hatte. Le Carré hatte während seiner Studienzeit in Oxford seine eigenen Kommilitonen für den MI5 bespitzelt. Das ergab Sinn. Die Briten waren ja nach der Enttarnung von Burgess, Maclean und Philby vorgewarnt und wollten eine solche Katastrophe nicht noch einmal erleben. Also fingen sie an, ihre eigenen Studenten zu überwachen. Und wer könnte unauffälliger Studenten bespitzeln als andere Studenten?
Das wiederum bedeutete, dass nicht nur die Russen, sondern auch die britische Seite Unterlagen über die Lage an den Universitäten sammelte. Auf dieses Material hoffte Jasper jetzt. Er starrte in das grelle Licht über ihm. Die National Archives waren ein besonders hässliches Archiv, ein wabenartiger Siebzigerjahre-Bau, an den man irgendwann einen etwas attraktiveren Neubau drangeklebt hatte. Im Parterre gab es eine überteuerte Cafeteria, und Jasper überlegte, ob er dort erst einmal einen seiner Aufheller mit Espresso herunterspülen sollte, bevor er sich den Karton ansah. Zumindest könnte das die potenzielle Enttäuschung noch etwas hinauszögern. Natürlich erwartete er keine Sensationen. Vor ihm lagen keine Geheimdienstakten, die waren alle noch gesperrt. Es waren die Akten des britischen Home Office, des Innenministeriums aus dem Jahr 1970. Aber hier könnten vielleicht Polizei- und Informantenberichte über linke Studentengruppen der 1970er-Jahre dabei sein. In erster Linie brauchte er das Material zwar für seine Dissertation, aber irgendwie hoffte er auch darauf, dass Hunt in diesen Akten auftauchte. Er und seine linken Freunde mussten doch damals observiert worden sein. Jasper kannte den Artikel, den Hunt kurz vor der Garden-House-Revolte für die Studentenzeitung geschrieben hatte, mittlerweile auswendig. Es klang wie der Aufruf zur Anarchie. Nach heutigen Maßstäben würde Hunt nach der Veröffentlichung eines solchen Artikels unter Terrorverdacht stehen. Jasper hatte sich immer wieder gefragt: Was, wenn Hunt einer der Bahnhofsnamen war, ein Student, der für die Sowjetunion spitzelte und sich dann später als der große Liberale verkaufte? Hatte es so eine merkwürdige Verwandlung nicht auch bei Kim Philby gegeben? Wera hatte es ihm detailliert erzählt, sie redete ja von nichts anderem als ihrem Dissertationsthema. Dieser Philby war über Nacht von einem begeisterten linken Studenten zu einem ehrenwerten Mitglied der britischen Gesellschaft geworden. Diese Bekehrung schien auch Hunt durchlaufen zu haben. Nach seinem Studium war er plötzlich der große Liebling des Establishments geworden. Für seine Bücher interviewte er unzählige Politiker und hohe Beamte, er kannte jeden in London und schien an alle Informationen heranzukommen, die er brauchte. Bis zu Stefs Ermordung war er ein Fernsehstar gewesen, dem jeder vertraute. Jasper war sich sicher, er könnte beweisen, dass Hunts Leben auf einer Lüge aufgebaut war.
Er entschied sich, nicht in die Cafeteria zu gehen, und nahm den Kartondeckel ab.
23. Februar 2015 Weras Zimmer 8 Jesus Lane Cambridge
Das winterliche Cambridge war alles andere als ein gesunder Ort. Entweder wurde man von anderen Studenten angehustet, oder die feuchte Kälte kroch einem in die Knochen. Wera hatte gelesen, dass Guy Burgess irgendwann einmal gesagt hatte, in Cambridge wäre permanent der 17. Februar. Zumindest in diesem Punkt hatte er recht. Der Grund dafür waren sicher die Flachheit des Landes, über das ständig ein eisiger Wind wehte, und die Feuchtigkeit, die vom Fluss hochzog. Die gefühlte Kälte in dieser Stadt kam Wera auf jeden Fall um mehrere Grade tiefer vor, als der BBC-Wetterbericht es vermuten ließ. Sie hatte sich wieder einmal ins Bett geflüchtet und fröstelte. Wahrscheinlich hatte sie sich bei dem endlosen Rudertraining mit David eine Erkältung geholt. Sie konnte es einfach nicht fertigbringen, ihm zu sagen, wie sehr sie dieses ständige Rudern erschöpfte. Sie wollte ihn auf keinen Fall verletzen, er hatte schließlich seinen Vater verloren, und sie musste Geduld haben. Aber sie war sich manchmal nicht ganz klar darüber, wie sie ihre Beziehung jetzt bezeichnen sollte. Waren sie ein Liebespaar? Wenn ja, dann ein ungewöhnliches. Ihre Beziehung schien rückwärts zu verlaufen – sie hatte mit Sex begonnen und sich dann in eine Art altmodische Werbungsphase zurückentwickelt. David fand es beruhigend, mit ihr ganz in der Früh, wenn der Nebel noch über dem Cam hing, zum Bootshaus zu radeln und einen der Doppelzweier hinauszutragen. Sie ruderten dann schweigsam eine Stunde lang den Fluss hinunter. Es schien ihm zu helfen, und Wera wagte nicht zu sagen, wie kalt ihr war und dass sie lieber in einem Kaffeehaus mit ihm sitzen würde. Wenn er wenigstens über seinen Vater geredet hätte, wäre das schon ein Fortschritt gewesen, aber nichts Wichtiges wurde besprochen.
Sie setzte sich im Bett auf und schaltete ihren Laptop ein. Auf den Webseiten der britischen Zeitungen fand sie nur Meldungen, die ihre Februarstimmung verstärkten. Kämpfe in Syrien, Chaos in britischen Krankenhäusern und immer neue Kindesmissbrauchsfälle. Sie wusste, dass sie davon Albträume bekommen würde, und trotzdem fing sie an, die Artikel über die Missbrauchsfälle zu lesen. (Fortsetzung folgt)