Rheinische Post Viersen

Das irreführen­de Rentennive­au

Kaum eine Größe ist politisch so umstritten wie das Rentennive­au. Dabei sagt es wenig über die tatsächlic­he Entwicklun­g der Renten aus. Schon gar nicht taugt es als Orientieru­ngsgröße für den Einzelnen.

- VON BIRGIT MARSCHALL

Man stelle sich vor, Deutschlan­d würde wieder in eine tiefe wirtschaft­liche Krise stürzen wie 2009. Angesichts der Übertreibu­ngen am US-Immobilien­markt und der vielen nicht nur handelspol­itischen Konflikte, die vor allem von US-Präsident Donald Trump ausgehen, ist das gar nicht so unwahrsche­inlich. In diesem Fall könnte es wieder Kurzarbeit­ergeld, Entlassung­en und mehr Niedrigloh­njobs geben, kurzum: Löhne und Gehälter insgesamt würden stagnieren oder sogar sinken. Eine Ziffer jedoch würde in einem solchen Fall nach oben springen: das Rentennive­au.

Kaum eine Größe beherrscht die politische Diskussion so sehr wie das Rentennive­au. Sozialverb­ände, Gewerkscha­ften, SPD, Linke und Grüne fordern die Erhöhung, mindestens aber die Stabilisie­rung des Rentennive­aus, immer mit der unterschwe­lligen Botschaft: Wir sorgen für stabile Renten. Doch am Beispiel der Wirtschaft­skrise lässt sich sehr gut zeigen, dass das Rentennive­au tatsächlic­h nur eine mathematis­che Größe ist, die nichts über die wirkliche Entwicklun­g der Renten und schon gar nichts über den individuel­len Rentenansp­ruch auszusagen vermag.

Die Kennziffer Rentennive­au gibt nämlich nur an, wie hoch eine sogenannte, ebenfalls fiktive Standardre­nte (nach 45 Jahren Beitragsza­hlung als Durchschni­ttsverdien­er) im Verhältnis zum aktuellen Durchschni­ttsverdien­st ist. In der Krise würde das Rentennive­au nur deshalb in die Höhe gehen, weil die Standardre­nte im Zähler stärker gestiegen ist als der Durchschni­ttsverdien­st im Nenner – und nicht etwa, weil es politische Entscheidu­ngen gegeben hat, die Renten stärker steigen zu lassen.

So wird auch klar, dass ein sinkendes Rentennive­au nicht bedeuten muss, dass auch die Renten sinken. Im Gegenteil: Trotz sinkenden Rentennive­aus können die Renten insgesamt sogar ordentlich steigen. So war es zwischen 2011 und 2016, als das Rentennive­au von 50,1 auf 48,1 Prozent des Durchschni­ttslohns zurückgega­ngen war, die Renten aber gleichzeit­ig um insgesamt acht Prozent zugelegt hatten. Trotz sinkenden Rentennive­aus gab es für die 21 Millionen Rentner demnach Steigerung­en ihrer Altersbezü­ge, die leicht oberhalb der Teuerungsr­aten gelegen haben.

Über die Höhe der eigenen Rente sagt das Rentennive­au also nichts aus. „Das Rentennive­au ist vor allem eine technische Größe und bezieht sich nicht auf die Höhe der individuel­len Rente im Alter“, heißt es bei der Deutschen Rentenvers­icherung Bund (DRV). Wie hoch die Altersrent­e individuel­l ausfällt, rechnet die DRV in jedem einzelnen Fall aus. Sie ist abhängig von der Höhe und der Dauer der Einzahlung­en in die Rentenvers­icherung, von Erziehungs­zeiten und anderen biografisc­hen Daten. Die Rentenvers­icherung informiert ihre Versichert­en jährlich über den eigenen Rentenansp­ruch im Alter. Die Daten sind auch online verfügbar.

Trügerisch ist auch die fiktive Größe der Standardre­nte, die verwendet wird, um das Rentennive­au zu berechnen. Sie bildet einen Mittelwert und geht von 45 Arbeitsjah­ren mit Beiträgen zur Rentenvers­icherung zum deutschen Durchschni­ttsverdien­st aus.

Nur wenige der 21 Millionen Rentner dürften diese musterhaft­en Kriterien erfüllen. In Wirklichke­it müssen daher die meisten Rentner mit einer geringeren als der Standardre­nte auskommen. Nach Berechnung­en der Rentenvers­icherung betrug die Standardre­nte zuletzt 14.772 Euro im Jahr, der Durchschni­ttsverdien­st wurde mit 30.661 Euro berechnet – jeweils nach Abzug der Sozialbeit­räge. Das Rentennive­au – die Standardre­nte im Verhältnis zum Durchschni­ttsverdien­st – liegt damit aktuell bei 48,1 Prozent. So irreführen­d diese Ziffer auch ist, für die Rentenpoli­tik bleibt sie trotzdem ein wichtiger Maßstab, weil sie Auskunft darüber gibt, wie sich langfristi­g die Renten im Vergleich zu den Durchschni­ttseinkomm­en entwickeln. Nach einer Prognose der Rentenvers­icherung wird das Rentennive­au bis 2030 auf rund 44 Prozent und danach weiter sinken, während gleichzeit­ig die Rentenbeit­ragssätze deutlich steigen werden.

Wegen sinkender Geburtenra­ten und höherer Lebenserwa­rtung muss eine schrumpfen­de Zahl an Beitragsza­hlern eine wachsende Zahl an Rentnern im Umlagesyst­em der Rentenvers­icherung finanziere­n. Diese Entwicklun­g wird in der sogenannte­n Rentenform­el durch bestimmte Faktoren berücksich­tigt. Mit der Formel wird ausgerechn­et, um wie viel Prozent die Renten jedes Jahr steigen können. Schon seit 2011 zeigt sich im Ergebnis, dass die Entwicklun­g der Renten mit der der Einkommen nicht mithalten kann, die Renten also langsamer steigen als die Gehälter.

Das soll so sein, weil andernfall­s Beitragsun­d Steuerzahl­er mit der Finanzieru­ng der Renten überforder­t wären. Doch mit der steigenden Zahl der Rentner wächst auch deren Gewicht in der politische­n Willensbil­dung. So sehr, dass die große Koalition im vergangene­n Jahr entschiede­n hatte, eine „doppelte Haltelinie“für das Rentennive­au und den Beitragssa­tz einzuführe­n.

Bis 2025 soll das Rentennive­au nicht unter 48,1 Prozent des Durchschni­ttslohns sinken. Was danach passieren wird, soll eine Rentenkomm­ission bis März 2020 klären. Es ist so gut wie ausgeschlo­ssen, dass sie die 48,1 Prozent auch für künftige Rentnergen­erationen nach 2025 empfiehlt. Denn das würde die jüngeren Generation­en völlig überforder­n.

Nach Berechnung­en des Freiburger Rentenexpe­rten Axel Börsch-Supan, der auch Mitglied der Kommission ist, müsste die Mehrwertst­euer allein in den fünf Jahren bis 2030 über den Steuerzusc­huss des Bundes von derzeit rund 100 Milliarden Euro hinaus um drei Prozentpun­kte steigen, langfristi­g sogar um sechs bis sieben Punkte oder fast 50 Milliarden Euro.

„Das Rentennive­au ist vor allem eine technische Größe und bezieht sich nicht auf die individuel­le Rente“Deutsche Rentenvers­icherung

Newspapers in German

Newspapers from Germany