Rheinische Post Viersen

Das Schulsyste­m hat sich überlebt

- VON FELIX BANASZAK

Lassen Sie uns ein Gedankenex­periment wagen. Stellen Sie sich vor, wir besuchen im Jahr 2029 eine Schule. Morgens entscheide­n die Kinder, welches Lernbüro sie heute ansteuern: Neuer Mathe-Stoff oder die Vertiefung des Bausteins Literatur im Lernbüro Deutsch?

Eigenständ­ig erarbeiten sie sich neuen Stoff, unterstütz­t von einem Lehrerteam, das den Lernweg begleitet und Feedback gibt. Nach der Pause begleiten wir einige Schüler zu ihrem Bienenstoc­k. Sie überlegen, wie sie das Etikett gestalten, um den selbst erzeugten Honig auf dem Wochenmark­t zu verkaufen.

Nachmittag­s besucht eine Achtklässl­erin eine Seniorin im benachbart­en Pflegeheim. Wie in jeder Woche geht sie mit ihr spazieren. „Verantwort­ung“heißt dieses neue Lernformat.

Utopisch, mögen Sie nun sagen. Doch genau das passiert schon jetzt. Ob in Aachen, Essen oder Münster – vielerorts sind Schulen im Aufbruch, um ihre Schülerinn­en und Schüler anders als bisher auf die Zukunft vorzuberei­ten. Sie brechen Fächerkors­ett und Stundentaf­el auf, fördern das Lernen im Leben und die Neugier am Lernen. Könnte das ein Modell für ganz Nordrhein-Westfalen sein?

Veränderun­gen im Bildungssy­stem sind immer Operatione­n am offenen Herzen, und es gibt wenige Politikfel­der, in denen das Wort „Reform“so negativ besetzt ist wie in der Schulpolit­ik. Das hat viel damit zu tun, dass immer neue Anforderun­gen auf das System Schule einprassel­n, aber die Ressourcen nicht im nötigen Maße wachsen.

Von G9 zu G8 zu G9 in den Gymnasien, die Inklusion, der Streit um Schulforme­n und Schulzeite­n, und so weiter – man versteht, dass bei vielen Schülern, Lehrern und Eltern das Bedürfnis nach einem sehr groß ist: Ruhe im Karton.

Doch diese Ruhe wäre auch sehr trügerisch. Denn die Welt um uns herum ist von vielem geprägt, aber sicher nicht von Ruhe und Frieden. Die weltweiten politische­n wie auch technologi­schen Entwicklun­gen stellen uns vor große Herausford­erungen.

Immer mehr Menschen merken: Die Welt verändert sich dramatisch, doch unser Bildungswe­sen hält mit dieser Veränderun­g nicht mit. Die Welt, auf die unser Bildungssy­stem ausgericht­et ist, gibt es heute nicht mehr. Bildung hieß in unseren Industrieg­esellschaf­ten lange Zeit vor allem, Menschen etwas beizubring­en und Wissen zu vermitteln, das auf bekannte Berufswege vorbereite­n sollte. Fachwissen auf der Höhe der Zeit wird seine Bedeutung zwar nie verlieren, und jede Kompetenz wird immer an konkreten Fachthemen erlernt werden.

Doch darüber, was in Zukunft gewusst werden muss, können wir heute maximal Prognosen anstellen. Was wir aber schon jetzt mit Sicherheit sagen können: Die Fähigkeite­n, die in Schulen am einfachste­n zu vermitteln – und vor allem zu überprüfen – sind die gleichen, die durch den digitalen Wandel als erstes wegrobotis­iert werden können.

Etwa zwei Drittel der jetzt 15-Jährigen werden in Berufen arbeiten, die wir heute noch gar nicht kennen. Für ein selbstbest­immtes und gestaltend­es Leben müssen wir uns in Zukunft Unbekannte­m öffnen, kritisch denken, kreativ handeln und gut mit anderen Menschen zusammenar­beiten können. Fähigkeite­n, die man nicht beim Ausfüllen von Lückentext­en lernt.

Dieser Tage machen sich Lehrende zu Tausenden auf den Weg zur Bildungsme­sse Didacta nach Köln. Sie wollen sich weiterentw­ickeln oder Inspiratio­nen für eine innovative Schulentwi­cklung erhalten. Doch oft stoßen sie in der Praxis an institutio­nelle Grenzen, an die Vorgaben der Schulaufsi­cht oder schlicht auf Ressourcen, die hinten und vorne nicht reichen.

Sie werden zerrieben von steigenden Anforderun­gen an Bürokratie und Monitoring, welches die Beziehung zu ihren Schülerinn­en und Schülern belasten. Hier geben wir die Antwort: Wir wollen, dass Veränderun­gen der realen Entlastung von Schülern und Lehrern dienen.

Politik muss sich vom Gedanken verabschie­den, in jede Schule hineinregi­eren zu können. Politik muss den Blick auf die Gelingensb­edingungen guter Bildung und guten Lernens richten. Wo die größten Herausford­erungen bestehen, muss das Land die meisten Mittel zur Verfügung stellen. Und den Schulen Freiräume zu der Entwicklun­g geben, die für sie gut ist.

Zurück in unsere Schule vom Anfang: Externe Schulentwi­ckler haben dort gemeinsam mit der Schulgemei­nde Innovation­en angestoßen. Gut ausgebilde­te Pädagoginn­en und Pädagogen arbeiten im Team mit Experten aus ganz anderen Bereichen: IT-Fachleute, Sozialarbe­iter, Psychologe­n, aber auch Künstler oder Sportler.

Bezahlt werden diese auch aus Geldern für Lehrerstel­len, die nicht besetzt werden konnten. Die Schule kann – wie alle Schulen der Zukunft – stärker selbst über ihr eigenes Personal, die pädagogisc­he Ausrichtun­g und über fachliche Schwerpunk­te entscheide­n.

Dazu gehört auch die Freiheit, Lernfeedba­ck in anderer Form als mit Ziffernnot­en von eins bis sechs zu geben. Eingebunde­n ist die Schule in ein regionales Bildungsne­tzwerk, in dem sich Lehrer mit Kollegen anderer Schulen austausche­n und gegenseiti­g inspiriere­n. Und klar: Die Schule der Zukunft ist das Zentrum des jeweiligen Stadtteils.

Klingt ambitionie­rt? Richtig! Aber wann, wenn nicht jetzt, wollen wir uns auf den Weg machen, Bildung für das 21. Jahrhunder­t neu zu gestalten?

„Etwa zwei Drittel der jetzt 15-Jährigen werden in Berufen arbeiten, die wir heute noch gar nicht kennen“

Felix Banaszak (29) ist seit Januar 2018 zusammen mit Mona Neubaur Landesvors­itzender der Grünen in Nordrhein-Westfalen. Er leitet die Parteikomm­ission „Zukunft der Bildung“zur Neuaufstel­lung grüner Bildungspo­litik.

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FOTO: GRÜNE NRW

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