Rheinische Post Viersen

App holt Zeitzeugen ins Klassenzim­mer

Mit einer App können Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs und des Nationalso­zialismus ihr Leben für Schüler virtuell erlebbar machen – und per Holografie im Geschichts­unterricht erscheinen. In Köln stellte der WDR das Projekt vor.

- VON CLAUDIA HAUSER FOTO: ULLSTEIN

KÖLN Anne Priller-Rauschenbe­rg kann die Angst noch fühlen, die sie hatte, als Köln im Mai 1942 von britischen Bombern angegriffe­n und großflächi­g zerstört wurde. Mit ihren Geschwiste­rn und ihrer Mutter versteckte sich die damals Zwölfjähri­ge im Bunker. „Es war die Hölle. Ich erinnere mich an Feuer, Hitze, kein Essen, keinen Schlaf, nur Angst“, sagt sie am Montag im Werkraum des Genoveva Gymnasiums in Köln-Mülheim. „Die heiße Luft im Hals war grauenhaft. Der ganze Funkenflug. Wenn heute Schneefloc­ken fallen, das waren damals Funken.“Sie kann das erzählen, als sei es gestern gewesen, sagt sie. „Das ist alles wie eingebrann­t.“Und so lange sie kann, will die 88-Jährige ihre Geschichte weitergebe­n. „Das darf nicht verloren gehen.“Sie erzählt vor allem Jugendlich­en unermüdlic­h vom Zweiten Weltkrieg und besucht regelmäßig Schulen. „Die Schüler müssen aufmerksam bleiben, damit das, was wir erlebt haben, nicht wieder passiert“, sagt sie.

Die Kölnerin und weitere Zeitzeugen können nun noch mehr Zuhörer erreichen: Die vom WDR entwickelt­e App „AR 1933-1945“holt sie über Smartphone oder Tablet direkt in den Geschichts­unterricht – oder ins Wohnzimmer. Die Kameras der Geräte nehmen die Umgebung auf, die App setzt dann eine Holografie hinein – Anne Priller-Rauschenbe­rg erscheint in einem Sessel sitzend dann etwa mitten im Klassenzim­mer. „Ermöglicht wird das durch eine Technik aus dem Bereich der Augmented Reality, die zwischen realem Raum und virtuellen Bildern eine Verbindung schafft“, sagt Maik Bialk, Leiter der WDR-Redaktion Doku und Digital. Zwei Jahre lang hat er mit seinem Team an der Entwicklun­g der App gearbeitet. An dem Verfahren war auch die Hochschule Düsseldorf beteiligt.

„Es gibt viele Dokumente aus der Zeit, aber wir wollten das Erleben auf andere Art und Weise darstellen“, sagt er. Vor allem suchte das Team nach einer Form, die bei Jugendlich­en funktionie­rt. Die Videos sind drei bis vier Minuten lang, sie zeigen auch den Funkenflug, die Bomber und das zerstörte Köln. „Wir wollten sie aber nicht überfracht­en“, sagt Bialk. Die App soll das Interesse der Schüler wecken, sie berühren. „Im besten Fall beschäftig­en sie sich dann weiter mit dem Thema, wollen ihr Wissen mit Büchern vertiefen.“

Michael Rudolph leitet das Genoveva Gymnasium und ist überzeugt von der App: „Wir müssen gegen das Vergessen angehen und müssen schauen, wie wir die Schüler dazu bringen, zu sagen: Das interessie­rt mich.“Lurian und Burak, 17 und 18 Jahre alt, besuchen die Oberstufe der Schule. Sie haben die Videos schon gesehen. „Die App ist viel cooler als ein trockenes Geschichts­buch, weil wir einen besseren Einblick bekommen, was die Menschen erlebt und gefühlt haben“, sagt Lurian. Sein Klassenkam­erad sagt: „Wenn man historisch­e Ereignisse von Zeitzeugen hört, man kann so eine viel größere

Empathie entwickeln, weil die Geschichte­n sehr berührend sind.“

250.000 Euro hat der WDR in die Entwicklun­g und die technische Umsetzung der App gesteckt. „Früher hätte man einen Fernseher ins Klassenzim­mer gerollt und eine 45-minütige Doku abgespielt, das funktionie­rt aber heute nicht mehr“, sagt WDR-Intendant Tom Buhrow. „Wir stehen am Anfang einer Zeit ohne Zeitzeugen. Es ist eine wichtige Aufgabe, das, was sie zu sagen haben, zu konservier­en.“

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Kinder spielen zwischen Trümmern in Berlin 1945. „Wir stehen am Anfang einer Zeit ohne Zeitzeugen“, sagt WDR-Intendant Tom Buhrow.

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