Viersen will eigene Regelung für Mietsätze
In Viersen sind die Hartz-IV-Mietäsetze niedriger als Mieten im öffentlich-geförderten Wohnungsbau. Das führt zu Zwangsumzügen. Viersens Politiker wollen das nicht mitmachen und fordern eine Sonderregelung.
VIERSEN Am liebsten hätte Gudrun Schmitz den Umschlag aus der Tasche geholt und ihn allen Mitgliedern in der Sitzung des Hauptausschusses im Viersener Stadtrat gezeigt. Vergangene Woche hatte die Viersenerin, die in Wirklichkeit anders heißt, ein Schreiben des Jobcenters erhalten. Darin wurde sie aufgefordert, bis spätestens 30. September eine neue Wohnung für sich und ihre beiden Söhne zu suchen. „Das ist mir so auf den Magen geschlagen, dass ich erst einmal drei Tage krank war“, erzählt sie.
Doch dann raffte sie sich noch auf und sprach bis Freitag im Büro von Bürgermeisterin Sabine Anemüller (SPD) vor. Denn die Frau hatte in dieser Zeitung gelesen, dass am Montag „ihr Fall“im Hauptausschuss des Viersener Stadtrates zur Sprache kommen werde.
„Ihr Fall“steht stellvertretend für einige hundert Fälle, die dem Stadtrat und der Verwaltung schon seit zwei Jahren Sorge bereiten. Es geht um die Höhe der Wohnungskosten, die „Transferleistungsbezieher“zu ihrem „Hartz IV-Regelsatz“erhalten. Der Kreis Viersen hatte zunächst Ende 2016 neue Kostensätze der „angemessenen Bruttomonatskaltmiete“bekanntgegeben. Sie wurden nach Protesten geringfügig geändert und sind seit Ende 2018 gültig „Damit bleiben die Kosten unterhalb des Niveaus vieler Hartz-IV-Mietverhältnisse“, antwortete die Verwaltung auf eine SPD-Frage und merkte an, dass die von Kreis festgestellten Kosten „unterhalb der Mieten für den öffentlich geförderten Wohnungsbau liegen“.
Vor einigen Wochen erhielt Gudrun Schmitz von der Viersener Aktienbaugesellschaft (VAB) die Nachricht, dass die Miete für ihre Wohnung, in der sie seit 2003 lebt, ab 1. April 2019 auf gut 570 Euro steigt – und damit um 40 Euro über dem vom Kreis festgelegten Regelsatz von 530 Euro liegt. Die nun vom Jobcenter verordnete Wohnungssuche könnte sie vermeiden, wenn sie den überschießenden Betrag aus eigener Tasche bezahlt. „Doch wie sollen wir das schaffen,“fragt sie, „wenn wir zu Dritt von 600 Euro leben müssen?“
Die Feststellung der Verwaltung, dass es in Viersen nicht ausreichend Wohnraum für eine dreiköpfige Familie in der Kategorie „530 Euro kalt“gebe, bestätigt Gudrun Schmitz. Sie zeigt ein Blatt mit 20 freien Wohnungen, von denen 19 über dem Preislimit liegen. Über die eine weiß sie noch nicht genau Bescheid, aber „weit draußen können wir nicht wohnen“, denn ihre Söhne müssen Lehrstellen in Mönchengladbach-Neuwerk und Dülken-Mackenstein erreichen – und Berufsschulunterricht in Düsseldorf und Rheydt absolvieren.
Nicht nur „Bedarfsgemeinschaften“wie die von Gudrun Schmitz haben Viersens Politik und Verwaltung im Auge, wenn sie sich gegen die vom Kreis festgesetzten Höchstgrenzen
wenden. Auch ältere Alleinstehende könnten aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden und gezwungen sein, in Altbauten auszuweichen. Aber eine „Ballung finanzund sozialschwacher Haushalte“dort führe zu einer Ghetto-Bildung.
Einhellig forderte der Hauptausschuss deshalb die Verwaltung auf, mit dem Kreis trotz seiner bisher nicht entgegenkommenden Haltung weiter über eine Veränderung der Richtwerte zu reden und dabei die besondere Situation Viersens zu berücksichtigen. Denn dort leben rund 40 Prozent der Hartz-IV-Bezieher kreisweit (bei 30 Prozent Bevölkerungsanteil). Selbst der Städtetag habe anerkannt, dass es in „Viersen eine besondere Situation gibt, die man bisher so nicht kennt“.