Ein Streifzug durch die Welt-Metropolen
Der Publizist Georg Milde durchreist die großen Städte der Welt – und landet desillusioniert in Berlin.
„Reisen bildet“, sagten schon die Alten. Reisen weitet den Blick, wenn man es versteht, die Augen offen zu halten. Georg Milde hielt Augen und Ohren offen und stellte seine inneren Antennen auf Empfang. Er war als Bildungsreisender drei Monate in der Welt unterwegs, jede Woche in einer der großen, faszinierenden und abstoßenden Metropolregionen des Planeten. Milde führte mehr als 100 Gespräche in Unis und Slums, in Palästen und Bruchbuden, mit Unternehmern und Obdachlosen, mit Pädagogen und Forschern, mit Politikern und Zukunftsdeutern. Der Wissenschaftler und Publizist wollte nicht erkunden, was die Welt im Innersten zusammenhält, sondern, was sie womöglich auseinandertreibt.
Fast möchte man schreiben, der Schrecken komme zum Schluss. Denn am Ende seiner Reise zu den Schauplätzen des Umbruchs ist Milde wieder in der Heimat, in Berlin. Das Kapitel über seine Eindrücke im Problemviertel Marzahn-Hellersdorf sind so erschütternd wie lesenswert. Veränderung zum Schlechten in der Millionenstadt, über die ein Grünen-Oberbürgermeister aus dem beschaulichen Tübingen jüngst lästerte, hier habe er jedes Mal das Gefühl, er betrete den nicht funktionierenden Teil Deutschlands. Milde urteilt nicht so pauschal und ungerecht; aber die von ihm geschilderten Straßenszenen aus Marzahn-Hellersdorf, die sorgsam notierten Sprechfetzen zeigen die Wunden auf, die an diesem deutschen Ort zutage treten. Gesellschaftliche Veränderungen in Deutschlands größter Stadt, die keinen Reiz ausüben, eher Brechreize auslösen.
Der weltreisende Wissenschaftler beobachtet genau, urteilt fair und schreibt auf exzellentem Reporter-Niveau. Atemberaubend liest sich beispielsweise das Brasilien-Kapitel mit Konzentration auf die Metropolregion São Paulo. Ist hier Zukunft, oder wird sie dort verspielt? Milde erlebt persönlich betroffen die grassierende Straßenkriminalität. Die Schwerstkriminalität (statistisch gibt es dort zehn Morde täglich) ist Beleg erschreckender Armut und Verwahrlosung. Sie kontrastiert mit Szenen krassen Reichtums plus Zukunftszuversicht. Relativierung des Erlebten: „Diese Stadt funktioniert gut… Ja, es ist ein Moloch – aber vieles klappt dennoch“, erfährt der Besucher aus Berlin von einem Gesprächspartner, der auch in anderen großen Städten gelebt hat.
Wahre Stürme der Transformation brausen im chinesischen Shanghai oder in Seoul, wo Südkorea seine Tigersprünge in die Moderne vorführt. Einfühlsam schildert Milde seine Streifzüge durch Europas Hotspot London, die europäische Zuwanderungsmetropole überhaupt. London, wo der Anteil der „White British people“seit der Jahrtausendwende von 60 auf 40 Prozent gesunken ist, gilt vielen als Abbild der Zukunftsgesellschaft. Milde berichtet mit einigem Erschrecken über das umfassende Abhören und die Videoüberwachung. In London lachen die meisten über deutsche Empfindlichkeiten, was die Weitergabe von Informationen oder Mobilfunkausspähung betrifft. Andererseits tragen britische Straßenpolizisten nach wie vor keine Waffe am Gürtel. Widersprüche, wohin man schaut und hört – auch oder gerade das durchzieht das lesenswerte politische Reisebuch.
Georg Milde. In Transformationsgewittern. 2018, Siebenhaar-Verlag, 544 S., 25 Euro