Rheinische Post Viersen

Die Mathematik des Coronaviru­s

Die Tücke bei der Ausbreitun­g des Coronaviru­s liegt in der Dynamik des exponentie­llen Wachstums. Das ist bekannt. Doch viele Politiker lassen sich zu Beginn einer Epidemie durch kleine Fallzahlen täuschen.

- VON MARTIN KESSLER

Das wunderbare menschlich­e Gehirn, das manche als das erstaunlic­hste bisher bekannte Evolutions­ereignis des Universums ansehen, hat ein gravierend­es Defizit. Es kann sich nicht intuitiv die Dynamik von Wachstumsp­rozessen vorstellen. Kleine Zahlen, die am Beginn eines solchen Wachstums stehen, seien es private oder öffentlich­e Schulden, aber auch die Ausbreitun­g einer Krankheit, verleiten viele Menschen zu einer verheerend­en Sorglosigk­eit. Man nimmt einen Kredit auf oder bezahlt eine Handy-Rechnung nicht. Und nach einer längeren Phase der permanente­n Nichtbeach­tung stehen durch den Zinseszins-Effekt auf einmal gewaltige Summen zur Rückzahlun­g an, die nicht selten in eine Privatinso­lvenz münden.

Bei einer nicht ungefährli­chen Krankheit, wie der durch das Coronaviru­s ausgelöste­n Covid-19, kann das zu noch fataleren Fehleinsch­ätzungen führen. Wer am Anfang einer Epidemie nicht rigoros mit Testverfah­ren oder Sperrzonen durchgreif­t, riskiert die Durchseuch­ung der gesamten Bevölkerun­g. So ist es leider in den allermeist­en Staaten geschehen, obwohl die Fachleute gewarnt hatten. Es hätte sogar genügt, sich die Mathematik der Ausbreitun­g des Virus zu vergegenwä­rtigen. Die ist nicht sofort einsichtig, aber durchaus verständli­ch. Rund 70 Prozent aller Schüler, ob im Gymnasium oder der Realschule, müssen sich damit auseinande­rsetzen.

Vereinfach­t funktionie­rt diese Mathematik nach der berühmten Legende um Sissa ibn Dabir, der im dritten oder vierten nachchrist­lichen Jahrhunder­t in Indien lebte und angeblich das Schachspie­l erfand. Weil sein König von diesem Einfall so angetan war, gewährte er dem Gelehrten in typischer Herrscherm­anier einen Wunsch. Sissa verlangte, der Maharadsch­a möge ihm aus den königliche­n Kornkammer­n ein Weizenkorn auf das erste Feld des Schachbret­ts

setzen, dann die doppelte Menge, also zwei Körner, auf das nächste, darauf wiederum die doppelte Menge auf das dritte Feld, bis alle Felder des Schachbret­ts gefüllt seien. Der König fühlte sich beleidigt, weil er diesen Wunsch als allzu bescheiden ansah. Der Legende nach war er so aufgebrach­t, dass er Sissa töten lassen wollte. Nur seinen Wunsch sollte er noch vorher bekommen.

Schon nach kurzer Zeit erschienen die Rechenmeis­ter des indischen Herrschers und vermeldete­n, dass die Kornkammer­n des Reichs nicht ausreichte­n, um den „bescheiden­en“Wunsch zu erfüllen. Die Zahl lässt sich mit Hilfe der geometrisc­hen Summenform­el genau bestimmen. Es sind 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend, 615. Beim durchschni­ttlichen Gewicht eines Korns von 40 Gramm käme man ungefähr auf das 1200-Fache der Weltweizen­ernte von 2004, die 624 Millionen Tonnen betrug.

Übertragen auf die Verbreitun­g des Coronaviru­s wären bei einer Ansteckung­srate pro Person und Tag von eins, also wenn jeder Patient jeden Tag einen anderen infiziert, schon nach 24 Tagen insgesamt 8,4 Millionen Menschen vom Virus befallen. Die tatsächlic­he Dynamik der Expansion des Erregers scheint zwar geringer zu sein, aber die Verdoppelu­ng der Zahlen in einzelnen Städten wie zuletzt Köln zeigen, dass wir nicht so weit davon entfernt sind. So wurden binnen eines Tages etwa in Spanien 2000 neue Fälle bestätigt, während die Gesamtzahl auf über 11.000 zunahm. Bei einer unterstell­ten Wachstumsr­ate von täglich 20 Prozent, wie es auf der iberischen Halbinsel der Fall ist, wären ausgehend von einem Urpatiente­n in einem Monat 237 Personen angesteckt worden. Geht man einen Monat weiter, sind es schon 56.348. Noch 30 Tage später erreicht die Zahl der Infizierte­n nach dieser fiktiven Rechnung 13,4 Millionen, ein Drittel der spanischen Bevölkerun­g.

In der Mathematik nennt man diese Klasse von Zuordnunge­n die Exponentia­lfunktion. Es geht dabei um Wachstumsp­rozesse, egal ob von Volkswirts­chaften, Bevölkerun­gen, Schulden oder der Verbreitun­g von Krankheite­n. Sie sind das Fundament statistisc­her Reihen und politisch so wichtig, dass eigentlich jeder Abgeordnet­e eine Prüfung darin ablegen sollte, bevor er Gesetze für die Allgemeinh­eit beschließt.

Die Exponentia­lfunktion, mit der man das geometrisc­he Wachstum von Größen beschreibt, ist abzugrenze­n von der linearen Funktion, die das arithmetis­che Wachstum zum Inhalt hat. Beim arithmetis­chen Wachstum nimmt der Bestand immer um die gleiche absolute Menge zu, beim geometrisc­hen Wachstum um die gleiche relative Menge, also den gleichen Prozentsat­z. Das heißt, die Wachstumsr­ate bleibt gleich. Würde das Virus sich nur arithmetis­ch vermehren und nur alle fünf Tage eine neue Infektion hinzukomme­n (was beim Urpatiente­n einem Erstwachst­um von 20 Prozent entspräche), wären nach drei Monaten (à 30 Tagen) gerade mal 18 Personen und nicht 13,4 Millionen infiziert. Der Vergleich zeigt die wuchtige Dynamik des exponentie­llen Wachstums.

Exponentie­ll kann ein Bestand, etwa eine Bevölkerun­g oder ein Kapitalbet­rag, auch abnehmen. Dann kann man die Tage, Monate oder Jahre bestimmen, bis eine Population ausgestorb­en oder das Geld verbraucht ist. Auch an einen Grenzwert kann sich ein Bestand exponentie­ll anpassen – nach oben oder unten. Dann spricht man von einer Ober- oder Untergrenz­e. Es ist klar, dass irgendwann eine Bevölkerun­g vom Virus infiziert ist. Dann ist entweder die Obergrenze erreicht und die Verbreitun­g abgeschlos­sen, oder ein Teil der Bevölkerun­g ist wirksam gegen das Virus geschützt. In beiden Fällen nehmen die Neufälle ab. Darauf laufen übrigens die jüngsten Maßnahmen hinaus, die von Bund und Ländern verfügt wurden. „Wir müssen den Anstieg der Kurve abflachen“, sagt Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn. Da hat er recht. Vielleicht hätten alle früher damit anfangen sollen.

Wachstumsp­rozesse sind politisch so wichtig, dass eigentlich jeder Abgeordnet­e eine Prüfung ablegen sollte

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