Die Mathematik des Coronavirus
Die Tücke bei der Ausbreitung des Coronavirus liegt in der Dynamik des exponentiellen Wachstums. Das ist bekannt. Doch viele Politiker lassen sich zu Beginn einer Epidemie durch kleine Fallzahlen täuschen.
Das wunderbare menschliche Gehirn, das manche als das erstaunlichste bisher bekannte Evolutionsereignis des Universums ansehen, hat ein gravierendes Defizit. Es kann sich nicht intuitiv die Dynamik von Wachstumsprozessen vorstellen. Kleine Zahlen, die am Beginn eines solchen Wachstums stehen, seien es private oder öffentliche Schulden, aber auch die Ausbreitung einer Krankheit, verleiten viele Menschen zu einer verheerenden Sorglosigkeit. Man nimmt einen Kredit auf oder bezahlt eine Handy-Rechnung nicht. Und nach einer längeren Phase der permanenten Nichtbeachtung stehen durch den Zinseszins-Effekt auf einmal gewaltige Summen zur Rückzahlung an, die nicht selten in eine Privatinsolvenz münden.
Bei einer nicht ungefährlichen Krankheit, wie der durch das Coronavirus ausgelösten Covid-19, kann das zu noch fataleren Fehleinschätzungen führen. Wer am Anfang einer Epidemie nicht rigoros mit Testverfahren oder Sperrzonen durchgreift, riskiert die Durchseuchung der gesamten Bevölkerung. So ist es leider in den allermeisten Staaten geschehen, obwohl die Fachleute gewarnt hatten. Es hätte sogar genügt, sich die Mathematik der Ausbreitung des Virus zu vergegenwärtigen. Die ist nicht sofort einsichtig, aber durchaus verständlich. Rund 70 Prozent aller Schüler, ob im Gymnasium oder der Realschule, müssen sich damit auseinandersetzen.
Vereinfacht funktioniert diese Mathematik nach der berühmten Legende um Sissa ibn Dabir, der im dritten oder vierten nachchristlichen Jahrhundert in Indien lebte und angeblich das Schachspiel erfand. Weil sein König von diesem Einfall so angetan war, gewährte er dem Gelehrten in typischer Herrschermanier einen Wunsch. Sissa verlangte, der Maharadscha möge ihm aus den königlichen Kornkammern ein Weizenkorn auf das erste Feld des Schachbretts
setzen, dann die doppelte Menge, also zwei Körner, auf das nächste, darauf wiederum die doppelte Menge auf das dritte Feld, bis alle Felder des Schachbretts gefüllt seien. Der König fühlte sich beleidigt, weil er diesen Wunsch als allzu bescheiden ansah. Der Legende nach war er so aufgebracht, dass er Sissa töten lassen wollte. Nur seinen Wunsch sollte er noch vorher bekommen.
Schon nach kurzer Zeit erschienen die Rechenmeister des indischen Herrschers und vermeldeten, dass die Kornkammern des Reichs nicht ausreichten, um den „bescheidenen“Wunsch zu erfüllen. Die Zahl lässt sich mit Hilfe der geometrischen Summenformel genau bestimmen. Es sind 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend, 615. Beim durchschnittlichen Gewicht eines Korns von 40 Gramm käme man ungefähr auf das 1200-Fache der Weltweizenernte von 2004, die 624 Millionen Tonnen betrug.
Übertragen auf die Verbreitung des Coronavirus wären bei einer Ansteckungsrate pro Person und Tag von eins, also wenn jeder Patient jeden Tag einen anderen infiziert, schon nach 24 Tagen insgesamt 8,4 Millionen Menschen vom Virus befallen. Die tatsächliche Dynamik der Expansion des Erregers scheint zwar geringer zu sein, aber die Verdoppelung der Zahlen in einzelnen Städten wie zuletzt Köln zeigen, dass wir nicht so weit davon entfernt sind. So wurden binnen eines Tages etwa in Spanien 2000 neue Fälle bestätigt, während die Gesamtzahl auf über 11.000 zunahm. Bei einer unterstellten Wachstumsrate von täglich 20 Prozent, wie es auf der iberischen Halbinsel der Fall ist, wären ausgehend von einem Urpatienten in einem Monat 237 Personen angesteckt worden. Geht man einen Monat weiter, sind es schon 56.348. Noch 30 Tage später erreicht die Zahl der Infizierten nach dieser fiktiven Rechnung 13,4 Millionen, ein Drittel der spanischen Bevölkerung.
In der Mathematik nennt man diese Klasse von Zuordnungen die Exponentialfunktion. Es geht dabei um Wachstumsprozesse, egal ob von Volkswirtschaften, Bevölkerungen, Schulden oder der Verbreitung von Krankheiten. Sie sind das Fundament statistischer Reihen und politisch so wichtig, dass eigentlich jeder Abgeordnete eine Prüfung darin ablegen sollte, bevor er Gesetze für die Allgemeinheit beschließt.
Die Exponentialfunktion, mit der man das geometrische Wachstum von Größen beschreibt, ist abzugrenzen von der linearen Funktion, die das arithmetische Wachstum zum Inhalt hat. Beim arithmetischen Wachstum nimmt der Bestand immer um die gleiche absolute Menge zu, beim geometrischen Wachstum um die gleiche relative Menge, also den gleichen Prozentsatz. Das heißt, die Wachstumsrate bleibt gleich. Würde das Virus sich nur arithmetisch vermehren und nur alle fünf Tage eine neue Infektion hinzukommen (was beim Urpatienten einem Erstwachstum von 20 Prozent entspräche), wären nach drei Monaten (à 30 Tagen) gerade mal 18 Personen und nicht 13,4 Millionen infiziert. Der Vergleich zeigt die wuchtige Dynamik des exponentiellen Wachstums.
Exponentiell kann ein Bestand, etwa eine Bevölkerung oder ein Kapitalbetrag, auch abnehmen. Dann kann man die Tage, Monate oder Jahre bestimmen, bis eine Population ausgestorben oder das Geld verbraucht ist. Auch an einen Grenzwert kann sich ein Bestand exponentiell anpassen – nach oben oder unten. Dann spricht man von einer Ober- oder Untergrenze. Es ist klar, dass irgendwann eine Bevölkerung vom Virus infiziert ist. Dann ist entweder die Obergrenze erreicht und die Verbreitung abgeschlossen, oder ein Teil der Bevölkerung ist wirksam gegen das Virus geschützt. In beiden Fällen nehmen die Neufälle ab. Darauf laufen übrigens die jüngsten Maßnahmen hinaus, die von Bund und Ländern verfügt wurden. „Wir müssen den Anstieg der Kurve abflachen“, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Da hat er recht. Vielleicht hätten alle früher damit anfangen sollen.
Wachstumsprozesse sind politisch so wichtig, dass eigentlich jeder Abgeordnete eine Prüfung ablegen sollte