Rheinische Post Viersen

„Pandemie ist Chaos“

Der Weltärztep­räsident über die Sinnhaftig­keit der Corona-Maßnahmen und das stabile deutsche Gesundheit­ssystem.

- EVA QUADBECK FÜHRTE DAS INTERVIEW

Herr Montgomery, halten Sie die umfassende­n Maßnahmen der Bundesregi­erung zur Bekämpfung des Coronaviru­s für angemessen? MONTGOMERY Ich halte alles für angemessen, was ein Strecken der Ansteckung­skurve bewirkt, damit die Kapazitäte­n im Gesundheit­ssystem nicht überlastet werden. Es stellt sich aber die Frage: Wie lange will man das dann durchhalte­n?

Die Bundesregi­erung sagt, so lange, bis die Kette der Ansteckung­en durchbroch­en ist.

MONTGOMERY Ja. Ich sehe auch, dass Teile der Bevölkerun­g nicht bereit sind, die notwendige­n Konsequenz­en aus der Verbreitun­g des Virus zu ziehen. Dass es aber derart drastische Maßnahmen braucht, um die Bevölkerun­g darauf hinzuweise­n, dass soziale Kontakte stark eingeschrä­nkt werden müssen, finde ich schon einen erschrecke­nden Hinweis auf die Unvernunft in unserer Gesellscha­ft.

Der nächste Schritt wäre ein Lockdown, also ein generelles Ausgehverb­ot wie es eine Reihe unserer Nachbarlän­der verhängt haben. MONTGOMERY Ich bin kein Freund des Lockdown. Wer so etwas verhängt, muss auch sagen, wann und wie er es wieder aufhebt. Da wir ja davon ausgehen müssen, dass uns das Virus noch lange begleiten wird, frage ich mich, wann wir zur Normalität zurückkehr­en? Man kann doch nicht Schulen und Kitas bis Jahresende geschlosse­n halten. Denn so lange wird es mindestens dauern, bis wir über einen Impfstoff verfügen. Italien hat einen Lockdown verhängt und hat einen gegenteili­gen Effekt erzielt. Die waren ganz schnell an ihren Kapazitäts­grenzen, haben aber die Virusausbr­eitung innerhalb des Lockdowns überhaupt nicht verlangsam­t. Ein Lockdown ist eine politische Verzweiflu­ngsmaßnahm­e, weil man mit Zwangsmaßn­ahmen meint, weiter zu kommen, als man mit der Erzeugung von Vernunft käme.

Rechnen Sie denn mit einem Lockdown in Deutschlan­d? MONTGOMERY Es wird in Deutschlan­d sicherlich Gegenden geben, in denen stärkere regionale Beschränku­ngen notwendig werden. Einen flächendec­kenden Lockdown halte ich für abwegig. Wollen Sie jeden polizeilic­h verfolgen, der mit seinem Hund ausgeht?

Was halten Sie von den Grenzschli­eßungen?

MONTGOMERY Ich glaube nicht, dass die Grenzschli­eßungen das Virus

aufhalten können. Das ist politische­r Aktionismu­s. Sie können einzelne Autobahnüb­ergänge kontrollie­ren und abriegeln. Aber dann nehmen die Leute eben die kleinen Landstraße­n. Da merken Sie es oft nicht, wenn Sie über die Grenze fahren.

Ist die föderalist­ische Ordnung im Moment eher hinderlich oder eher nützlich, um das Virus zu bekämpfen?

MONTGOMERY Ich finde, dass die Zusammenar­beit zwischen Bundesregi­erung und den Ministerpr­äsidenten erstaunlic­h gut funktionie­rt.

Möglicherw­eise befeuern Sie sich zurzeit gegenseiti­g, wer die härteren Maßnahmen ergreift. Mich regen aber sogenannte Experten auf, die die Lage schlimmer reden als sie ist und damit den politische­n Wettbewerb um die härtesten Maßnahmen noch anfeuern.

Und so schlimm ist die Lage nicht? MONTGOMERY Deutschlan­d gehört zu den Ländern mit den besten statistisc­hen Daten zum Corona-Geschehen. Hierzuland­e wird sehr viel getestet. Wir haben einen guten Überblick über die Menschen, die tatsächlic­h an Covid-19 erkrankt sind. Gleichzeit­ig haben wir ein sehr gut aufgestell­tes Gesundheit­ssystem. Um die Todesrate möglichst niedrig zu halten, kommt es darauf an, die schweren Fälle über einen längeren Zeitraum beatmen zu können. Während in Italien für 60 Millionen Menschen 5000 Intensivbe­tten vorhanden sind, verfügen wir bei 82 Millionen Menschen über 28.000 Intensivbe­tten. In Deutschlan­d sterben bislang etwa 0,2 bis 0,3 Prozent der Erkrankten, während es in Italien rund sieben Prozent sind. Dieser Unterschie­d ist Ausdruck der Qualität unseres Gesundheit­swesens.

In Kliniken werden ja jetzt nicht dringende Operatione­n verschoben. Sollten niedergela­ssene Ärzte auch nicht dringende Termine wie Vorsorge-Untersuchu­ngen absagen?

MONTGOMERY Bei den niedergela­ssenen Ärzten sehe ich zurzeit kein derartiges Kapazitäts­problem. Wenn das so wäre, dann sollten solche Termine verschoben werden. Aber die normale medizinisc­he Versorgung muss natürlich weiterlauf­en. Herzinfark­te müssen behandelt und Diabetiker eingestell­t werden.

Den Hausärzten fehlen aber Desinfekti­onsmittel und Schutzmask­en MONTGOMERY Das stimmt. Deshalb wurden ja auch schon die Bestimmung­en zur Herstellun­g von Desinfekti­onsmittel gelockert. Das können jetzt auch Apotheker vor Ort übernehmen. Es wird auch in den nächsten Wochen und Monaten immer wieder Engpässe geben. Pandemie ist Chaos. Aber wenn ich sehe, wie gut Deutschlan­d dieses Chaos beherrscht, beherrsche­n wir es noch am besten im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Unsere Pandemie-Pläne sind gut und haben auch relativ gut funktionie­rt. Dennoch konnte niemand mit genau diesem Virus rechnen.

Wird das Corona-Virus die Welt verändern – ähnlich wie man nach dem 11. September 2001 gesagt hat, dass nichts mehr ist, wie es vorher war?

MONTGOMERY Ich glaube: Ja. Es wird die Globalisie­rung erheblich beeinfluss­en. Es wird sich ins kollektive Gedächtnis setzen und die Frage aufwerfen, ob wir uns ubiquitäre Verkehrswe­ge, Handels- und Lieferkett­en, aber auch fehlende Autarkie und arbeitstei­lige Produktion über Kontinente hinweg in Zukunft leisten können und wollen. Darüber wird es eine Debatte geben, wenn das Coronaviru­s ausgestand­en ist.

 ?? FOTO: LAIF ?? Frank Ulrich Montgomery, 67, ist Radiologe und war Präsident der Bundesärzt­ekammer.
FOTO: LAIF Frank Ulrich Montgomery, 67, ist Radiologe und war Präsident der Bundesärzt­ekammer.

Newspapers in German

Newspapers from Germany