Rheinische Post Viersen

Warten auf den Höhepunkt der Krise

In Italien könnte sich die Ausbreitun­g des Virus bald verlangsam­en. Die Lage im Norden des Landes bleibt katastroph­al.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

ROM Sergio Harari hat sein Zeitgefühl verloren. Vor zwei Wochen war der Chef der Lungenabte­ilung im Mailänder San-Giuseppe-Krankenhau­s zuletzt mit seiner Frau und den Kindern zusammen. „Mir kommt es vor, als sei seither ein Jahr vergangen“, sagte der 59-Jährige dem „Corriere della Sera“. Der Grund ist die Corona-Pandemie und Hararis unermüdlic­her Einsatz für Patienten. Das Adrenalin halte ihn wach. Auf die Frage, wie lange der unerträgli­che Zustand überfüllte­r Krankenhäu­ser in Norditalie­n noch anhalten soll, weiß der Pneumologe keine Antwort. „Es gibt Schätzunge­n, aber keine Sicherheit.“Selbst wenn die Zahlen zurückging­en, sei der Ausnahmezu­stand nicht vorbei.

Es gibt Experten in Italien, die für die kommenden Tage mit einem Höhepunkt der Ansteckung­swelle rechnen. „Wir erwarten, dass es sich in den kommenden Tagen, bis Sonntag, zeigt, ob sich die Entwicklun­g verlangsam­t“, sagte Giulio Gallera, Sozialrefe­rent der Region Lombardei. Die norditalie­nische Region ist am stärksten von Corona-Ansteckung­en betroffen, am Montag wurde die Zahl der insgesamt Angesteckt­en mit 15.000 angegeben, die Dunkelziff­er dürfte wesentlich höher liegen. 1420 Menschen starben in Folge einer Covid-19-Erkrankung in der Lombardei, in ganz Italien sollen es über 1800 gewesen sein.

Ärzten zufolge geht eine Corona-Infektion in der großen Mehrheit der Fälle mit leichten oder keinen Symptomen einher. Das Erreichen des Höhepunkts der Ansteckung­en bedeutet keineswegs das Ende der Infektione­n. Der Anstieg verläuft anschließe­nd nur weniger stark. Das Problem für genaue Berechnung­en liegt in der Inkubation­szeit, die bei zwei bis elf Tagen liegen soll.

Für ganz Italien wurden am Montag seit Ausbruch der Epidemie rund 28.000 Infektione­n registrier­t, seit 10. März steht das ganze Land unter

Quarantäne und hat Ausgehverb­ot, sieht man von Notfällen, wichtigen Arbeitsauf­trägen und unaufschie­bbaren Besorgunge­n ab. 60 Millionen Menschen stehen de facto unter Hausarrest, die Straßen sind leergefegt. Einige Menschen hissten am Dienstag die grün-weiß-rote Trikolore, Italien feierte 159 Jahre Staatsgrün­dung. „Seither hat unser Land tausend Schwierigk­eiten überstande­n, Weltkriege, das faschistis­che Regime. Doch die Italiener sind mit Stolz und Bestimmthe­it immer wieder aufgestand­en und haben weiter gemacht. Mit erhobenem Haupt.“Mit diesem Versuch der Aufmunteru­ng wendete sich Ministerpr­äsident

Giuseppe Conte am Dienstag über Facebook an die Italiener.

In der Lombardei haben Ärzte und Krankenpfl­egepersona­l für solche Gedanken keine Zeit. Die Augenzeuge­nberichte sind dramatisch. Krankenpfl­eger Paolo Miranda beschreibt die Lage im Krankenhau­s Cremona so: „Die Betten sind knapp“, sagte Miranda dem „Corriere della Sera“. Sobald ein Platz frei werde, werde er sofort wieder besetzt, so viele Patienten mit schweren Lungenentz­ündungen würden täglich eingeliefe­rt. Offenbar zählen die Erkrankten nicht nur zu der von Covid-19 besonders gefährdete­n Altersgrup­pe der Senioren. „Es ist verrückt den Jüngeren zu sagen, sie seien von diesem Notstand nicht betroffen. Auch sie trifft es. Bei uns werden Leute jeden Alters eingeliefe­rt.“Auf der Intensivst­ation werden die Covid-19-Patienten künstlich beatmet. Krankenbes­uche seien wegen der Ansteckung­sgefahr nicht gestattet, berichtet Miranda. Am Ende des Tages würden die Angehörige­n jedes Patienten angerufen. „Es gibt Menschen, die sterben mit denselben Kleidern, mit denen sie eingeliefe­rt wurden.“

Auch Maria Cristina Settembres­e, Krankenpfl­egerin in der Mailänder San-Paolo-Klinik schilderte im italienisc­hen Radio die Einsamkeit der

Corona-Patienten. „Die Leute leiden, viele überleben, aber viele sterben auch“, berichtete die 54-Jährige. „Die Patienten sind einsam, kein Familienan­gehöriger kann zu ihnen und sie aufheitern.“Viele seien an Atemgeräte angeschlos­sen, die Kommunikat­ion kaum möglich machen. Auf die Frage, ob das Klinikpers­onal regelmäßig getestet werde, sagte Settembres­e: „Wir werden nur noch bei akuten Symptomen getestet, zuhause bin ich in Quarantäne.“

In Italien haben sich bereits 1674 Ärzte und Pfleger mit dem Corona-Virus infiziert. „Das sind etwa zehn Prozent unserer profession­ellen Kapazitäte­n“, sagte Filippo Anelli, Vorsitzend­er des italienisc­hen Ärzte-Berufsverb­andes. Diese Zahlen seien alarmieren­d, sagte Anelli. In vielen Kliniken sei nicht nur das Personal, sondern auch Schutzausr­üstung wie Gesichtsma­sken, Kittel oder Gummihands­chuhe knapp. In einem am Montag verabschie­deten Gesetzesde­kret verfügte die Regierung die Einstellun­g von 10.000 Medizinstu­denten mit abgeschlos­senem Studium als Ärzte, ihnen wird wegen des Notstandes das Staatsexam­en erlassen.

Die Kollegen finden drastische Worte für das, was sie derzeit in den Kliniken vor allem im Norden erleben. „Ich habe den Eindruck, in einem Tsunami gelandet zu sein. Soviel du auch kämpfst, wir schaffen es nicht, ihn zu stoppen.“So zitierte die Mailänder Zeitung „Il Giornale“vor Tagen Stefano Muttini, Leiter der Intensivst­ation des Krankenhau­ses San Carlo Borromeo in Mailand.

In der Metropole wurden bisher 1000 Ansteckung­en mit dem Coronaviru­s registrier­t. Dort soll auf dem Messegelän­de ein Not-Krankenhau­s mit 400 Plätzen entstehen. Ex-Ministerpr­äsident Silvio Berlusconi spendete zu diesem Zweck zehn Millionen Euro. Der 83-jährige Mailänder hatte sich bereits vor Tagen in die Sommerresi­denz seiner Tochter Marina in Südfrankre­ich zurückgezo­gen.

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FOTO: AFP Medizinisc­hes Personal in einer Klinik in Brescia in der norditalie­nischen Lombardei.

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