Dem Sport droht die große Spaltung
Der Umgang mit der Corona-Krise wird zur großen gesellschaftlichen Frage. In der Spitze wie in der Breite.
Es hat sich vieles verändert in den vergangenen Wochen. Die Rivalität scheint zur Seite getreten zu sein. Denn es gibt plötzlich einen gemeinsamen Gegner. Das Coronavirus hat den Sport verändert, verunsichert, fast überall zum Stillstand gebracht. Wie nachhaltig die Folgen sind, kann niemand absehen. Der Sport hat zu oft schon bekundet: Nach dem Ereignis X ist nichts mehr, wie es vorher war. Nach dem Anschlag auf die Twin Towers am 11. September 2001, nach dem Balkankrieg, nach der Kuwait-Krise nach dem Enke-Selbstmord. Doch, es wurde nur still für ein paar Wochen, für ein paar Monate. Danach kehrte der Spitzensport zum Alltag zurück, zur bunten Show in diesem Fall, zur harten Konkurrenz, zum kalten Kapitalismus.
Doch diesmal wird es kein so leichtes „Zurück zu vorher“geben, zurück zur Zeit vor Corona. Diesmal wird sich auch der Sport nachhaltig verändern, das ist sicher. Im Kleinen wie im Großen. In der Fußball-Bundesliga wie in der Laufgruppe.
Körperliche Nähe wird zum Faktor im Sport. Vergangene Woche auf einem Jugendfußballplatz in der Region. Als Jugendfußball noch stattfindet. An der Seitenlinie werden Desinfektionsmittel so selbstverständlich herumgereicht wie dereinst Wasserflaschen. Man kann nur hoffen, dass nicht allzu viele die Behälter verwechseln. Der Trainer hat eine neue Übungsform eingeführt. Die Kinder sollen nicht mehr mit den Händen abklatschen, sondern mit den Füßen. Das klappt soweit ganz gut. Zwei Minuten später liegen beim ersten Torjubel dann doch alle übereinander.
Doch Nähe kann jetzt eigentlich keiner gebrauchen. Und das macht es für den Sport so schwierig, für den Mannschaftssport im Speziellen. Eltern werden ganz anders über Nähe nachdenken, Nähe, wie sie Kinder im Vereinssport suchen und finden. Zweikämpfe, Jubeltrauben, enger Teamverbund – das alles wird nach Corona in einem anderem Licht der Bewertung stehen. Gerade zu Beginn. Ängste essen Teamgeist auf. Hinzu kommt im Spitzensport: Anspannung, eine gewisse Form von Aggression, dem anderen zu demonstrieren, dass man nicht gewillt ist, in diesem Monat, an diesem Ort passieren zu lassen, ist Teil des Spiels. Das Spiel mit dem Publikum, sich anpeitschen zu lassen, ausgepfiffen zu werden. Der Sport verkommt zu einer recht technokraten Sache, wenn er isoliert von allem ist. Sport ist auch immer ein zur Schau stellen. Der eigenen Stärke,
der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Körpers.
Die Kluft zwischen arm und reich wird wachsen. Die Einstellung des Spielbetriebs wird den Profisport verändern. Denn eine längere Pause, wie sie zurzeit wahrscheinlich ist, werden nur die Großen überleben, bei den Individualsportarten die Stars, die nicht abhängig sind von Startgeldern, bei den Vereinen die Profiklubs, die sich ohne Zuschauerund TV-Einnahmen ordentlich über Wasser halten können, weil sie sich in der Vergangenheit vor lauter Millioneneinnahmen ein finanzielles Polster zulegen konnten.
Die Pandemie wird deshalb die Kräfteverhältnisse zementieren, sie wird die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen. So mancher Drittligist im Fußball beispielsweise wird eine lange Wettkampfpause gar nicht überleben. Branchengrößen wie Bayern München und Borussia Dortmund werden schmerzhafte Einbußen erleiden. Im Endeffekt aber stehen sie nach der Krise größer da als vorher, weil die Kleinen kleiner geworden sind.
Die Werte der angeblich so großen Sportfamilie werden in diesen Tagen mal wieder beschworen, der Zusammenhalt in der Krise, die gegenseitige Unterstützung, die gemeinschaftliche Besinnung auf das Wesentliche, und dass dieses Wesentliche eben nicht die Frage ist, wer in einem
Spiel mehr Tore geschossen hat oder wer schneller gelaufen ist. In Krisenzeiten werden stets Werte beschworen. Nach der Krise gehören sie wieder zu den Sonntagsreden von Funktionären, nach den Werten gelebt wird jedoch so wenig wie vorher.
Vielleicht nutzen die wirklich großen Klubs diesen Moment für eine Zäsur. Schon länger geistert herum, es könnte sich eine Liga der TopKlubs gründen. Die würden sich von den nationalen Wettbewerben lossagen und ihr eigenes Ding machen – ein elitärer Zirkel, so in etwa, wie es im US-Sport in der NBA, NHL oder NFL Plätze gibt, die sich Investoren sichern können. Es geht dann also überhaupt nicht mehr um Tradition, sondern ausschließlich um die Frage, wer sich das Spiel noch leisten kann. Fraglich, ob es so eine Identifikation mit den Klubs gibt. Und was aus den nationalen Ligen wird. Die hätten wenig bis gar keinen sportlichen Wert mehr, weil man den Aufstieg in die höchste Liga ja sportlich überhaupt nicht mehr schaffen kann. Das Spiel insgesamt könnte für eine große Gruppe an Reiz verlieren.
Sport wird teurer – ausüben genauso wie zugucken. Es wird die spürbarste Konsequenz der Corona-Krise sein. Sport als Hobby wird die Menschen mehr kosten. Ob ihr Hobby nun daraus besteht, in ein Stadion, in eine Halle zugehen, um Profisport zu gucken. Oder ob sie in der Freizeit selbst im Verein oder im Fitnessstudio aktiv sind. Der Profisport jenseits der Big Player im Fußball wird die Einnahmenverluste, die ihm im momentanen Stillstand entstehen, nicht ohne die Unterstützung seiner treuen Fans verkraften können. Und er wird es auch gar nicht erst versuchen.
Die Klubs werden die Finanzierung der Krise weiterreichen. Über höhere Ticketpreise, ein teureres Trikot im Fanshop. Der Zuschauer wird seinen Beitrag aus der Geldbörse leisten müssen, will er auch nach Corona Spiele seines Lieblingsvereins sehen können und nicht in vielen Fällen einzig in Erinnerungen schwelgen an eine Zeit, als der Herzensverein noch nicht insolvent war.
Der Breitensport ist bei aller staatlicher Zuwendung ebenfalls stark darauf ausgerichtet, von seinen Mitgliedern getragen zu werden. Ob nun im Verein oder im Fitnessstudio. Wenn monatelang keine Einnahmen reinkommen in die Vereinskasse, weil Kurse nicht stattfinden und Fitnesscenter vorübergehend schließen müssen, werden die Beiträge steigen.
Zugang zum Sport könnte also in gewisser Weise ein Luxus werden, einer, den sich weniger gönnen können als vor Corona.
Der Nationalismus wird in den Stadien an Stärke gewinnen. In Rom hat dieser Tage einer in einem Straßenzug laut hörbar die chinesische Nationalhymne abgespielt. Warum? Weil das Corona-Virus, das Italien beutelt wie kein anderes Land in Europa, zwar in China seinen Ursprung nahm, aber es eben auch China ist, das die Italiener derzeit mit dringend benötigtem medizinischem Equipment versorgt, während Nachbar Österreich die Grenze geschlossen hat. Die Länder dieser Welt werden in diesen Monaten der nationalen Abschottung sehr sensibel darauf reagieren, ob Nachbarländer nach Kräften helfen oder sich am Ende doch selbst der Nächste sind. Offene Rechnungen wird auch der Sport begleichen. Weil der Sport immer schon Ventil nationalistischer Tendenzen war. Europapokalduelle und Länderspiele bieten dafür die perfekte Bühne.
Der Spitzensport wird sich stärker als bisher an seiner moralischen Integrität messen lassen müssen. Wie scheinheilig gerade der Profifußball sein kann, zeigte die Zeit nach dem Selbstmord des früheren Nationaltorwarts Robert Enke 2009. Auch da hielt der Sport inne, in zunächst ehrlichem Erschrecken über seine offenkundige Herzlosigkeit. Die Beteiligten versprachen sich gegenseitig Besserung, dauerhafte Besinnung auf das Wahre, weniger Ich-Bezogenheit, weniger unbedachte Systemtreue, mehr Blick für den Nächsten, der ja auch der Konkurrent ist. Was ist von diesen Vorsätzen geblieben? Nichts. Auch hier kam ganz schnell der Alltag.
Diesmal muss es anders sein. Die Deutsche Fußball-Liga hat gespürt, wie abstoßend es viele Menschen empfunden haben, dass die DFL Ende der vergangenen Woche aus rein kapitalistischen Erwägungen zögerte, den Spielbetrieb einzustellen, als der Rest der Welt schon kapituliert hatte. Die Bevölkerung wird den Spitzensport daran messen, welche gesellschaftliche Verantwortung er bei der Bewältigung der Corona-Krise leistet. Und sie wird ihn aus dieser Verantwortung nicht entlassen. Die kommenden Wochen und Monate werden über das künftige Binnenverhältnis zwischen Profisport und Fan entscheiden, über die Beziehung von Verehrten und Verehrern. Das wird ein sensibler Prozess. So viel zumindest sollte allen bewusst sein.