Willi Achtens virtuelle Lesung in Breyell
Wegen der Corona-Pandemie wurde die Lesung von Willi Achten in der Stadtbücherei abgesagt. Zu einer Video-Aufzeichnung der Lesung eines Kapitels kam der Autor, der in Elmpt aufwuchs, jetzt nach Nettetal.
NETTETAL Für Mai war mit ihm eine Lesung in der Stadtbücherei in Breyell geplant. Die Lesung ist abgesagt. So kam Autor Willi Achten schon jetzt in die Stadtbücherei, um einen Ausschnitt aus seinem neuen Roman „Die wir liebten“zu lesen. Natürlich nicht vor Publikum. Dafür wurde er gefilmt. Die Stadt wird die kurze Film-Lesung in Kürze auf ihrer Internetseite veröffentlichen.
Achten ist ein Kind der Region. Gebürtig in Mönchengladbach, wuchs er in Elmpt auf und ging in Waldniel auf das Gymnasium St. Wolfhelm. Was im Klappentext westdeutsche Provinz genannt wird, entpuppt sich als sein Kindheitsort. Elmpt mit seinem großväterlichen Hof, den Briten vom Militärflughafen und das Erziehungsheim Hostert im benachbarten Waldniel. Aber auch wenn sich Willi Achten von seiner Kindheit inspirieren ließ, ist das Buch kein autobiographisches.
Für sein neues Buch hat Achten den renommierten Piper-Verlag in München gewinnen können. Eigentlich sollte das Buch auf der Buchmesse in Leipzig vorgestellt werden. Doch die Corona-Pandemie kam dazwischen. Das Buch wurde gut besprochen, etwa im Deutschlandfunk. Aber alle geplanten Lesungen im Anschluss wurden bisher abgesagt. Seine Lesung in Breyell war somit die erste überhaupt. Der Autor, der mit seiner Familie heute im niederländischen Vaals bei Aachen lebt, bekennt, noch keine Erfahrungen mit Lesungen aus dem neuen Buch zu haben.
So wählte er für die Video-Sequenz, die im Auftrag des Kulturbereichs
der Stadt Nettetal gedreht wurde, eine Stelle aus, die das Leben der beiden Protagonisten, des elfjährigen Edgar und des zwölfjährigen Roman, aus den Fugen hebt. Achten liest, wie beim Tanz in den 1. Mai auf dem Marktplatz des Dorfes der Vater der Jungen mit der unverheirateten Tierärztin des Ortes tanzt und sich in sie verliebt.
Willi Achten ist Jahrgang 1958 und 1971 kaum älter als seine Helden im Buch. Und die eingestreuten Hinweise an die Musik dieser Jahre, an die BeeGees oder Bob Dylan, genauso wie Heino und die ZDF-Rateshow „Dalli Dalli“decken den Zeitgeist dieser Jahre gut ab. Es ist eine Zeit, in der das Dritte Reich noch in vielen nationalsozialistisch geprägten Autoritäten weiterwirkt, während mit der Studentenrevolte und mit Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“eine neue Epoche beginnt.
Der Vater ist ein Bäcker und Konditor, der gerne Heinrich Böll liest. Glücklich sind seine Söhne, wenn sie mit ihm zusammen die legendären Spiele von Borussia Mönchengladbach, etwa gegen Schalke 04 oder Inter Mailand, im Stadion besuchen. Aber der Vater ist alles andere als geerdet. Er verlässt die Familie – und damit beginnt die dramatische Wende. All das ist Fiktion, lediglich für den epileptischen Vetter gab es ein reales Vorbild. Die Familie ist keine Bilderbuchfamilie: Der Vater backt Brot, die Mutter verkauft in ihrem Lottoladen Illusionen. Die krebskranke Großmutter hält den Haushalt zusammen, die demente Großtante, die unaufhörlich strickt, gehört einfach dazu. Der Roman vermittelt viel Zeitkolorit.
Im letzten Drittel des Romans kommen der Ich-Erzähler Edgar und sein rebellischer Bruder ins Erziehungsheim. Vorbild ist das Erziehungsheim Hostert in Waldniel, das Schutzengelhaus. Achten ist in Waldniel aufs Gymnasium gegangen, in den 1970er Jahren war das Haus längst als Hospital und Internat von den Briten genutzt. Heute steht es weitgehend leer. Achten hat intensiv über die Geschichte des Hauses recherchiert. Und so finden die beiden Brüder im Keller der Anlage Akten aus der NS-Zeit. Dort wurde Euthanasie an behinderten Jungen und Männern betrieben. Die heutige Gedenkstätte auf dem ehemaligen Friedhof erinnert an das Leid der damals Getöteten. In diesen Kapiteln mutet der Autor seinen Lesern viel zu. Das Buch lässt seine Leser nicht so schnell los.