„Corona ist für uns Alltag“
Sabina Schwedas Sohn Leon hat Autismus. Wegen Corona fallen alle Therapien aus. Ein Einblick in ihren Alltag.
ST. TÖNIS Sabina Schweda ist ein positiver Mensch. Das Glas sei für die 46-Jährige immer halb voll und nicht halb leer, erzählt die Yoga-Lehrerin. Das Telefoninterview mit ihr wurde für nach 20 Uhr verabredet, erst dann beginnt ihr Feierabend. Denn der Tag ist komplett strukturiert, es gibt keine Ausnahmen, keine Änderungen – an 365 Tagen im Jahr. Bei ihrem 16-jährigen Sohn Leon wurde frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Der Junge kann nicht sprechen, nicht alleine essen, muss gewickelt werden. Das alles stemmt Sabine Schweda allein. Jetzt mit der Coronavirus-Pandemie kommt die Mutter langsam an ihre Grenzen, denn Schule, Therapien, alles fällt aus.
Leon war ein Wunschkind. Sabina Schweda arbeitete bei einer Bank, stand mitten im Leben, war kerngesund. Bei der Schwangerschaft zeigten sich keine Auffälligkeiten. Als Leon acht Monate alt war, sprachen die Ärzte erstmals von einer „Entwicklungsstörung“. Doch nach und nach, als der Junge immer noch nicht laufen konnte, kam der Verdacht auf, dass eine Krankheit dahinterstecken könnte. „Er hat eine veränderte Wahrnehmung, er zeigt keine Reaktion, kaut nicht, kann sich nicht allein anziehen, kann kein einziges Wort sprechen“, sagt die Mutter. Erst seit er sechs sei, könne er laufen.
Die Ehe der Eltern ging in die Brüche. 2015 ließen sie sich scheiden, der Vater verließ die Familie. „Der Kindesvater lebt seit vielen Jahren nicht mehr bei uns, also ich bin allein“, erklärt die Freiberuflerin. Auch an den Wochenenden, in den Ferien, an Feiertagen bleibt die Unterstützung des Vaters aus. Damit hängt alles an Sabina Schweda. Auch zu ihrer Familie hat sie keinen Kontakt mehr.
Normalerweise besucht Leon die Schule für körperlich und geistig behinderte Kinder. Er wird morgens abgeholt und am Nachmittag nach Hause gebracht. Das alles findet seit Mitte März aufgrund der Infektionsschutzmaßnahmen nicht mehr statt. Wichtige Therapien wie Physio oder Logopädie macht die 46-Jährige
jetzt gerade mit ihm allein zu Hause. „Gut, dass mein Job auch gerade Pause hat, sonst wäre das nicht zu machen“, sagt die Yoga-Lehrerin. Am Abend, wenn Leon im Bett ist, macht sie Videos für ihre Schüler mit Entspannungssequenzen – auch für sie selbst eine gute Möglichkeit abzuschalten.
Jetzt, da sich der Alltag vieler komplett verändert hat, Kinder zu Hause sind, die Erwachsenen zwischen
Homeoffice und Homeschooling stecken, gegen Langeweile der Kleinen ankämpfen, sieht Sabina Schweda eine Chance: „Ich denke, dass uns das alles verändern wird für die Zukunft, Mitmenschlichkeit und Solidarität werden wieder wichtig“, sagt sie. Viele Freunde hat die Mutter nicht, das sei mit Leon auch kaum machbar. Keiner kann nach Hause kommen, auf Fremde reagiere er mit Ablehnung und Aggression. „Seitdem
er nur zu Hause ist, schlägt er manchmal mit dem Kopf gegen die Wand, das ist schrecklich“, sagt Sabina Schweda. Im Alltag würde man sie schnell vergessen, aber jetzt, während der Coronavirus-Pandemie, kommen Hilfsangebote von Bekannten: „Soll ich für dich einkaufen gehen? Brauchst du etwas?“Das kennt die 46-Jährige normalerweise nicht. Oft denkt sie: „Ihr werdet Corona alle überleben und in ein normales Leben zurückkehren, für Eltern mit schwer behinderten Kindern ist Corona Alltag.“
Im Gespräch mit Bekannten erzählen diese von ihren Problemen mit Kindern. Sabina Schweda würde sich diese Probleme wünschen: „Dass mein Sohn mal Mist macht oder Freunde mit nach Hause bringt“, erzählt sie. Das alles passiert in ihrem Alltag nicht. Ihr größter Wunsch: dass Leon sprechen könnte. Ein Wort, mehrere, ganz gleich. Sie liebt ihr Kind über alles, würde nichts ändern wollen. Ihn abzugeben in ein Heim, kommt für Sabina
Schweda nicht infrage: „Das wäre so, als wenn ich meinen Säugling abgeben würde, das kann ich nicht“, sagt die gebürtige Krefelderin. Doch ihr ist klar, dass sie diese Entscheidung irgendwann treffen muss, wenn sie zu alt wird, ihn zu pflegen. Eine Woche Kurzzeitpflege in Sonsbeck für Leon habe sie vergangenes Jahr gemacht und ist einfach ans Meer gefahren. „Einfach mal nichts tun zu müssen, die Füße in den Sand stecken, unbeschreiblich“, sagt sie.
Mit der Lebenshilfe Viersen ist sie im Kontakt. Zwei Betreuerinnen, die Leon kennt, kommen nach Absprache, damit die Mutter in der Corona-Zeit auch mal Erledigungen machen kann. Sie hat Angst, dass die körperlichen und mentalen Kräfte nachgeben, wenn Corona das Leben weiterhin so einschränkt. Sie möchte nicht aufgeben, für ihren Sohn da sein. „Er steht total auf die Schokolade von diesen Kinder-Überraschungseiern“, erzählt sie. Es sind die winzig kleinen Dinge des Lebens, die ihr ein Lächeln ins Gesicht zaubern.