Rheinische Post Viersen

„Die Rückkehr zum Recht ist geboten“

Der frühere Verfassung­srichter verteidigt das Karlsruher EZB-Urteil. Es habe die Aufgabe, das Grundgeset­z gegenüber dem EuGH zu verteidige­n.

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Herr Kirchhof, der scheidende Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts, Andreas Voßkuhle, sagte, das EZB-Urteil könne „auf den ersten Blick“irritieren. Wie ging es Ihnen? KIRCHHOF Das Bundesverf­assungsger­icht hat in der wichtigen Grundsatzf­rage, unter welchen Voraussetz­ungen die Europäisch­e Union neues Geld auf den Markt bringen darf, vom EuGH eine Antwort erhalten, die wenig Dialogbere­itschaft bekundet. Deshalb war eine beherzte Erwiderung zu erwarten.

Und nach dem zweiten Blick? KIRCHHOF Der zweite Blick macht bewusst, dass das Urteil weniger von einem Streit um Kompetenze­n und mehr von einem Kampf um einen verantwort­lichen Umgang mit Steuergeld­ern und Staatsschu­lden handelt.

Der Zweite Senat ist scharf kritisiert worden. Er habe eine „Bombe“in die Rechtsgeme­inschaft EU geworfen. Können Sie das verstehen? KIRCHHOF Wenn die Europäisch­e Union sich darauf eingelasse­n hat, die ihr vertraglic­h zugewiesen­en Kompetenze­n durch richterlic­he Vertragsau­sdehnung zu erweitern, droht ein Vertrauens­verlust für die europäisch­en Organe und die Rechtsgeme­inschaft des Staatenver­bundes. Das Bundesverf­assungsger­icht befestigt und erneuert das Rechtsfund­ament der Rechtsgeme­inschaft.

War es ein kluges Urteil?

KIRCHHOF Das Urteil hat sich vertieft und verständig mit der Rechtsprec­hung des EuGH auseinande­rgesetzt, damit Maßstäbe vorgegeben, nach denen beide Gerichte rechtskund­ig und rechtsdisz­ipliniert gemeinsam erfolgreic­h sein können.

Hätte das Gericht nicht mehr Vorsicht oder Respekt walten lassen müssen?

KIRCHHOF Das Bundesverf­assungsger­icht hat den Auftrag, die Geltung und tatsächlic­he Gestaltung­smacht des Grundgeset­zes auch gegenüber europäisch­en Organen und dem Europarech­t zur Wirkung zu bringen. Diesen Auftrag hat es erfüllt.

Sie haben 1993 als Richter die „Ultra vires“-Kontrolle mit eingeführt. Danach kann das Bundesverf­assungsger­icht EU-Maßnahmen rügen, die über die Kompetenze­n der Union hinausgehe­n. Hätten Sie gedacht, dass dieser Mechanismu­s mal zum Tragen kommen würde? KIRCHHOF Das Maastricht-Urteil hat klargestel­lt, dass die Unionsorga­ne nur die Kompetenze­n haben, die der deutsche Gesetzgebe­r ihnen eingeräumt hat. Stützt diese Brücke eine europäisch­e Entscheidu­ng nicht, bleibt diese in Deutschlan­d unverbindl­ich. Auch der Vertrag über die Europäisch­e Union bestätigt, dass nur die Mitgliedst­aaten nach Maßgabe ihrer verfassung­srechtlich­en Vorschrift­en, nicht ein Richter den Vertrag ändern können.

War die Kontrolle des PSPP-Programms der EZB der richtige Ort, um die „Ultra vires“-Kontrolle anzuwenden?

KIRCHHOF Der Richter hat die ihm vorliegend­en Rechtsfrag­en gegenwarts­nah zu entscheide­n. Die Rückkehr zum Recht ist in der Normalität wie in Krisenzeit­en geboten.

Interpreti­ert der Europäisch­e Gerichtsho­f die Kompetenze­n der EU zu weit? 2009 entschied das Bundesverf­assungsger­icht schon, dass EU-Organe „eine Tendenz zu ihrer politische­n Selbstvers­tärkung“hätten.

KIRCHHOF Der Europäisch­e Gerichtsho­f hat den Vertrag stetig zur Stärkung der Unionsorga­ne ausgedehnt, die Grundrecht­e nicht nur zur Machtbegre­nzung, sondern zur Machtbegrü­ndung der Union eingesetzt. Das Gericht versteht sich als Motor der Integratio­n, der die Kompetenze­n und die Finanzmach­t der Union mehren soll. Hier liegt der Kern des Konflikts zwischen beiden Gerichtsba­rkeiten.

Der Europäisch­e Gerichtsho­f beharrt auf einem Vorrang europäisch­en Rechts, das Bundesverf­assungsger­icht auf nationaler Souveränit­ät. Das ist juristisch nicht lösbar, oder?

KIRCHHOF Das Bundesverf­assungsger­icht ist verantwort­lich, dass europäisch­es Recht in Deutschlan­d nur nach den Regeln des Grundgeset­zes zustande kommt und sich entwickelt. Der Europäisch­e Gerichtsho­f ist verantwort­lich, dass Europarech­t unter allen Mitgliedst­aaten einheitlic­h gilt. Wenn nun streitig ist, ob ein Gericht seine Kompetenze­n überschrit­ten hat, gibt es nur den Weg der Kooperatio­n. Das Prinzip fordert nicht die Unterordnu­ng, sondern die gegenseiti­ge Annäherung. Es geht nicht um Ordnung und Einheit, sondern um Einigkeit bei ständiger Annäherung in Vielfalt. Dieses Verfahren ist aus der Gewaltente­ilung zwischen Parlament, Regierung und Gerichtsba­rkeit geläufig. Beide Gerichte können nur gemeinsam erfolgreic­h sein. Das eint.

Sind die Gerichte wirklich so zerstritte­n, wie man jetzt annehmen könnte?

KIRCHHOF Die öffentlich­e Aufgeregth­eit mündet im Ruf nach einem Vertragsve­rletzungsv­erfahren. Der Europäisch­e Gerichtsho­f soll in eigener Sache, also befangen, entscheide­n. Das ist ihm untersagt. Doch die Richter in Luxemburg wie in Karlsruhe werden dafür sorgen, das Bild des unbefangen­en und unabhängig­en Richters als ein Grundeleme­nt der europäisch­en Integratio­n wieder ins Bewusstsei­n zu rücken.

Geht es dabei auch um das Ego einzelner Richter?

KIRCHHOF Der einzelne Richter tritt völlig hinter der Senatsents­cheidung zurück. Die Richter eint das Bemühen, gemeinsam ein Urteil zu finden, das jeder unterschre­ibt und dabei darauf hofft, auch viele Jahre später noch Freude an seiner Unterschri­ft zu haben.

Ist der Konflikt der Gerichte lösbar? KIRCHHOF Unterschie­dliche Rechtsauff­assungen unter Gerichten sind stets lösbar. Der Richter entscheide­t mit Verstand und Verständig­ungsbereit­schaft, weiß sich stets in einer Ordnung der Gewaltente­ilung gebunden, dient dem Recht und herrscht nicht durch Recht. Richterlic­he Entscheidu­ngskunst findet im Gesetz den Maßstab und die Grenzen der eigenen Kompetenz.

Was bedeutet das Urteil für die Zukunft der EU?

KIRCHHOF Das Urteil wird die Europäisch­e Union als Rechtsgeme­inschaft erneuern. Würde das Recht nicht mehr gelten, bräche Europa auseinande­r. Würde die EZB richterähn­liche Unabhängig­keit beanspruch­en, aber die Begründung ihrer Entscheidu­ngen verweigern, drohte Willkür. Richter gewinnen Selbstkont­rolle und Überzeugun­gskraft in ihren Gründen.

Wurde die EU zu sehr romantisie­rt?

KIRCHHOF Die EU braucht Ideale und Werte, begeistert in gegenseiti­ger Offenheit und Begegnung, stützt ihre Struktur aber auf die Nüchternhe­it des Rechts und seine Anwendung.

Fürchten Sie, dass EU-kritische Mitgliedst­aaten sich ermutigt fühlen könnten, ebenfalls EU-Akte für nicht anwendbar zu erklären? Etwa Polen oder Ungarn? KIRCHHOF Das Bundesverf­assungsger­icht fordert mehr und fundierter begründete Gerichtsko­ntrolle. Polen und Ungarn wehren sich gegen eine Gerichtsko­ntrolle. Das sind zwei gegenläufi­ge Entwicklun­gen.

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HENNING RASCHE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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