Rheinische Post Viersen

Blixa Bargeld darf nicht mehr auf Schrottplä­tze

Der Sänger der Einstürzen­de Neubauten über das Jubiläumsa­lbum zum 40. Geburtstag seiner Band.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

BERLIN Um das Ausmaß der Tragik zu begreifen, muss man erwähnen, dass die Einstürzen­den Neubauten einst vor allem mit Metall musiziert haben. Manchmal warfen sie einen Einkaufswa­gen über die Bühne, weil dessen Sound so schön zu Stücken wie „Tanz Debil“passte. Inzwischen gibt es aber ein Problem: Die Neubauten werden nicht mehr auf Schrottplä­tze gelassen. Bis an die polnische Grenze sind sie gereist. Nützte nichts: „Es lässt einen keiner mehr drauf“, sagt Blixa Bargeld. Warum nicht? Er zuckt mit den Schultern: „Versicheru­ngstechnis­ch.“

Blixa Bargeld ist Kopf der Einstürzen­den Neubauten. Er ist 61 Jahre alt und heißt eigentlich Christian Emmerich. Er sitzt in einem bequem aussehende­n Sessel vor seinem Computer in Berlin. Das Skype-Gespräch führt er in seinem Arbeitszim­mer, das von einer mächtigen Bücherwand beherrscht wird. Auf welchen Instrument­en spielen die Neubauten denn nun? „Auf Migrantenk­offern“, antwortet er. So nenne der Berliner Volksmund diese kastenarti­gen Taschen aus kariertem Plastiksto­ff. „Wir befüllen sie mit Containern, die wiederum mit Erbsen, Nägeln oder Münzen befüllt sind.“Und das klingt gut. „Die Dinge müssen etwas von sich preisgeben. Diese Koffer hätten sich nie träumen lassen, dass sie mal Musikinstr­umente werden.“

Die Band hat ein neues Album veröffentl­icht, „Alles in Allem“heißt es, und es ist die Platte zum 40. Jubiläum der Gruppe. 1980 produziert­e sie in West-Berlin ihre erste Single im Hohlraum einer Autobahnbr­ücke, der Titel lautete „Für den Untergang“. Ihre erste LP „Kollaps“spielte sie mit Hammer, Bohrer und Säge ein. Sie inspiriert­e Gruppen wie Depeche Mode, gehört mit Kraftwerk und Can zu den internatio­nal einflussre­ichsten Popmusiker­n Deutschlan­ds. Und ab den 90er Jahren sang Bargeld auch noch die schönsten Texte. Bitte unbedingt „Stella Maris“anhören, das Duett mit Meret Becker. Zwei Träumer verpassen einander im Schlaf, weil sie nicht mehr wissen, ob sie sich am Süd- oder Nordpol verabredet hatten: „Es gibt nichts Interessan­tes

hier / Die Ruinen von Atlantis nur / Aber keine Spur von dir.“

Herr Bargeld, wie schreiben Sie Ihre Texte? „Unterwegs schreibe ich mit der Hand in Notizbüche­r. Ich übertrage das dann in den Computer und drucke es aus, und wenn ich genug habe, lasse ich es binden.“Er zeigt einen der schwarzen Bände, und man stellt sich vor, dass man als zuständige­r Buchbinder versucht wäre, den Inhalt vor Abgabe heimlich zu kopieren. Aber das wäre nicht rechtens.

Ob er sich vor dem Liederschr­eiben eingroovt mit guter Literatur? Nö, sagt er. „Ich lese so gut wie gar keine zeitgenöss­ische Literatur. Ich liebe Wissenscha­ftsprosa. Zum Beispiel diese hier.“Er hält einen Rowohlt-Band in die Kamera: „Die Ordnung der Zeit“von Carlo Rovelli. Haben Sie keinen literarisc­hen Hausheilig­en? Da wird er energisch: „Hausheilig­er?“, ruft er empört. „Brecht! Menschheit­sheiliger!“

Das neue Album ist gut, das Lied „Zivilisato­risches Missgeschi­ck“ klingt, als wäre es von ganz früher. Ja, sagt Bargeld, das liege daran, dass es auf einem Kartensyst­em basiere, das er erfunden habe. Auf 600 Karten notierte Bargeld je einen Begriff, der konstituie­rend ist für die Musik der Band. Bargelds Ehefrau, die chinesisch­e Mathematik­erin Erin Zhu, schiebt ein Handy ins Bild, darauf Fotos von Karten mit der Aufschrift „laut/leise“, „Plastik“, „Hohlkörper“, „schnell“. Jedes Bandmitgli­ed ziehe eine Karte und mache sich darauf einen Reim.

Wie Bargeld das Wort „Wolke“im Titelstück singt, das erinnert an Hildegard Knef. Schlimm? „Schön!“, sagt er. „Ist ja nichts Schlimmes. Knef ist mir recht. Marlene ist mir auch recht.“Apropos Marlene: Bekommen wir je den großen Berlin-Roman von Ihnen zu lesen? Seine Ehefrau ruft aus dem Hintergrun­d: „Nein!“Bargeld lacht: „Sie meint, ich schreibe so langsam, da würde ich 30 Jahre dran sitzen.“

Hört man also weiter seine Platten. Ist auch nicht schlecht.

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FOTO: MOTE SINABEL Blixa Bargeld, Kopf der Einstürzen­den Neubauten.

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