„Ich will mein Kind wieder umarmen“
Nur einmal in der Woche darf Antje Ehrmann ihre geistig behinderte Tochter kurz besuchen. Dabei muss sie zwei Meter Abstand halten. Die Mutter fragt sich, wieso Demos stattfinden, sie aber nicht ihrer Tochter nah sein kann.
DÜSSELDORF Antje Ehrmann (Namen von Mutter und Tochter geändert) ist verzweifelt. Wegen der Pandemie hat sie ihre Tochter Clara, die in einer Wohngruppe für Kinder mit geistiger Behinderung lebt, zwei Monate nicht sehen dürfen. Und selbst jetzt darf sie die 16-Jährige auch nur einmal in der Woche in ihrer Einrichtung besuchen – unter Einhaltung des Mindestabstandes. „Erklären Sie das mal einer Jugendlichen, die einen Entwicklungsstand eines Kindes der ersten Klasse hat“, sagt sie.
Einen Nervenzusammenbruch habe sie deswegen bereits hinter sich, sagt sie. „Es kann doch nicht sein, dass Restaurants wieder offen haben, Tausende Menschen demonstrieren und Fußballspiele stattfinden dürfen, ich aber meine Tochter nicht in den Arm nehmen darf“, kritisiert die 46-Jährige. „An Menschen mit Behinderungen wird in der Krise kaum gedacht. Sie kommen zu kurz. Dabei ist es gerade für sie sehr schwer, das alles zu verkraften“, sagt Ehrmann.
Oft gehören Menschen mit Behinderungen zur Risikogruppe und müssen daher besonders vor dem Virus geschützt werden. Die Eltern von Kindern mit Behinderungen seien in der Corona-Krise auch dadurch besonders stark belastet, sagt Gerd Ascheid, Landesvorsitzender der Lebenshilfe in Nordrhein-Westfalen. Eltern beeinträchtigter Kinder müsste daher in diesen Zeiten schnell, unbürokratisch und flexibel geholfen werden.
Weil es immer wieder zu Konflikte gekommen ist, weil Angehörige wegen der Corona-Pandemie behinderte oder pflegebedürftige Menschen nicht besuchen durften, hat die Landesregierung vor kurzem eine Dialogstelle geschaffen, um Lösungen in solchen Fällen zu finden. Aber trotz der jüngsten Lockerungen verwehren viele Einrichtungen ihren Bewohnern weiterhin den Besuch. Dieser sei aber wichtig und unter Einhaltung der vorgegebenen Maßnahmen unbedingt zu gestatten, betonte die Landesbehindertenund -patientenbeauftragte Claudia Middendorf vor wenigen Tagen.
Am 10. Mai hat Antje Ehrmann ihre Tochter nach Monaten zum ersten Mal wiedersehen dürfen – mit zwei Metern Abstand zueinander. „Für Clara war das sehr schwierig, Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten soll und hat sich nicht getraut, mich anzugucken“, sagt Ehrmann.
Seitdem darf sie zumindest einmal in der Woche zu ihrer Tochter; die eigentlich 14-tägig stattfindenden Besuche zu Hause sind nach wie vor verboten. „Wir könnten unsere Tochter natürlich nach Hause holen, aber dann können wir sie nicht mehr so einfach zurückbringen; Clara müsste dann für zwei Wochen von den anderen Bewohnern isoliert werden“, sagt die 46-Jährige. Aber nicht nur ihre Tochter, sondern auch die anderen Kinder seien ängstlich und eingeschüchtert und wollten endlich wieder mal nach Hause, sagt Ehrmann. „Die Kinder leiden sehr und benötigten ihre Eltern. Ich sage das nicht nur wegen meiner Situation, sondern spreche für alle Familien, die sich in so einer Lage befinden “, betont sie.
Eine genaue Diagnose für Claras geistigen Entwicklungsrückstand konnte bislang nicht gestellt werden. „Wir kennen die Ursache nicht. Das konnte mit allen uns zur Verfügung stehenden medizinischen Mitteln nicht herausgefunden werden. Man geht von einem noch unbekannten Gendefekt aus“, sagt Antje Ehrmann.
Clara darf nun einmal in der Woche in die Schule gehen. Mit zwei weiteren Jugendlichen sitzt sie dann in einer Klasse; zuvor hat sie die Aufgaben in die Wohngruppe geschickt bekommen. „Auch in der Schule fehlen Clara der Alltag und die Struktur“, klagt ihre Mutter. „Behinderte Menschen brauchen aber einen geregelten Ablauf und Alltag. Diese Kinder benötigen mehr beziehungsweise besonderen Unterricht, man sagt ja nicht umsonst Förderschule“, sagt Ehrmann.
Experten sehen es ähnlich. Bei der schrittweisen Öffnung der Schulen bleiben NRW-Verbänden zufolge viele Kinder und Jugendliche mit Behinderungen außen vor, kritisierte die Landeselternkonferenz (LEK) NRW und zahlreiche weitere Vereine in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): „Wir erfahren von immer mehr Fällen, in denen Schulen einzeln oder gruppenweise ihren Schülern mit geistigen, aber auch körperlichen Behinderungen den Zutritt zur Schule verweigern.“
Wenn Antje Ehrmann ihre Tochter besucht, gehen sie meistens draußen spazieren – auch hierbei mit Abstand. „Wir laufen dann hintereinander her“, sagt sie. Wenn das Wetter schlecht ist, sitzen sie auf einer überdachten Terrasse. „Aber das hält meine Tochter keine zwei Stunden aus und bricht deswegen meine Besuche schon viel früher ab, weil sie dann wieder in ihr Zimmer will und einfach überfordert ist“, sagt die Mutter. Sie habe Angst, den Draht zu ihrer Tochter zu verlieren.„Ich will endlich mein Kind wieder umarmen.“
„Auch in der Schule fehlen Clara der Alltag und die Struktur“Antje Ehrmann
Mutter eines behinderten Kindes