In China wächst die Angst vor der zweiten Welle
Ausgerechnet Peking wird zum Risikogebiet für Corona-Infektionen. Die Führung geht rigoros gegen die Ausbreitung vor.
PEKING Während die gleißende Junisonne allmählich hinter den Bürotürmen des Pekinger Stadtzentrums verschwindet, wischt der Manager einer Bar im Ausgehviertel Sanlitun die staubigen Stühle seiner Terrasse blank. Die Kundschaft ist am Sonntagabend trotz des Kaiserwetters bislang ausgeblieben. „Heute ist wirklich nicht viel los. Peking wird schon schon wieder extrem streng“, sagt der Mann im schwarzem T-Shirt in sein Handy. Was der Gastronom mit „streng“meint, lässt sich nur einen Steinwurf entfernt beim Jingkelong-Supermarkt beobachten: Mehrere Mitarbeiterinnen in roten Westen ermahnen die Kundschaft vor dem Eingang mit einem Megafon, ihre Gesichtsmasken aufzuziehen und einen QR-Code zu scannen. Und selbst in den Wohnsiedlungen der Stadt achten die Wachmänner der Nachbarschaftskomitees wieder penibel darauf, niemanden Einlass zu gewähren, der nicht seine Handynummer und Ausweisdaten niederschreibt.
Fast zwei Monate lang blieb Peking ohne Neuinfektion. Nun jedoch haben die Gesundheitsbehörden die 21-Millionen-Metropole allein in den vergangenen zwei Tagen 46 Covid-19-Fälle bestätigt. Was in vielen Ländern weltweit wohl ein Erfolg wäre, löst in der Volksrepublik China die Angst vor einer zweiten Coronavirus-Welle aus.
Ein Rückblick: Der neue Infektionsstrang geht auf den Xinfadi-Markt im südwestlichen Fengtai-Bezirk zurück; dem größten Umschlagplatz für Landwirtschaftsprodukte in ganz Asien, der auf einer Fläche von 157 Fußballfeldern jeden Tag bis zu 80 Prozent des Nahrungsbedarfs Pekings deckt. Seit am Donnerstag und Freitag mindestens zwei von drei Infizierten nachweislich den Markt besucht hatten, wurde dieser in der Nacht auf Samstag geschlossen. Auf sozialen Medien sind Videos zu sehen, auf denen mehrere hundert bewaffnete Polizeikräfte in dem Viertel ausschwärmen, um die anliegenden Wohnsiedlungen abzusperren und Schuleinrichtungen zu schließen.
Minutiös haben die Behörden Tausende Proben ausgewertet und bereits am Samstag 40 Spuren des Virus gefunden, darunter auch auf einem Schneidebrett für einen importierten Lachs. Wenige Stunden später nahmen bereits mehrere große Supermarktketten sämtliche Lachsprodukte aus ihrem Sortiment. Gleichzeitig werden die Inspektionen sämtlicher Märkte der
Stadt erhöht. Der für Montag geplante Unterrichtsbeginn Pekinger Grundschulen muss erneut auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Zudem sollen rund 10.000 Mitarbeiter des Xinfadi-Marktes getestet werden.
Die drastischen Maßnahmen belegen, wie riesig die Fallhöhe für ein Land mit 1,4 Milliarden Bewohnern und einem gleichzeitig nur rudimentär entwickelten Gesundheitssystem ist: Die Behörden hatten zwar nach einem radikalen Lockdown im Februar das Virus weitgehend unterdrückt, jedoch auch den größten Wirtschaftseinbruch für das erste Jahresquartal seit über 30 Jahren herbeigeführt. Während sich die Industrieproduktion nun mittlerweile wieder normalisiert hat, kämpft die Regierung vor allem mit Investitionspaketen darum, den Arbeitsmarkt im Niedriglohnsektor für die Millionen Arbeitsmigranten aus den Provinzen zu stabilisieren. Ein zweiter Lockdown hätte wohl katastrophale Folgen für die zweitgrößte Wirtschaft der Welt.
Für solche Szenarien sei es „noch zu früh“, der Ausbruch sei schließlich „nur auf einen Stadtteil Pekings beschränkt“, sagt Jörg Wuttke, Leiter der europäischen Handelskammer in Peking. Den neuen Infektionsstrang bezeichnet der Wirtschaftslobbyist als „zu erwarten“. Ähnlich lautet auch der Tenor der chinesischen Staatsmedien, die zwar zur Wachsamkeit mahnen, aber Panik vor einer zweiten Welle für unbegründet halten. Die parteitreue
„Global Times“verweist etwa auf Südkorea, das bereits Erfahrungen mit einem erneuten Aufflammen des Virus gemacht habe und die erhöhten Infektionszahlen schlussendlich wieder unter Kontrolle bringen konnte. Auf der privaten News-Plattform „Toutiao Xinwen“war hingegen Besorgniserregendes zu lesen: Einer der Infizierten klagte über Symptome, die er bereits am 4. Juni erkannt hatte. Wie lange also der Infektionsstrang möglicherweise im Dunkeln wütete, ist bislang noch unklar. Ebenso, ob es sich um eine Mutation des Virus handelt: Zuletzt beschrieben chinesische Ärzte Ende Mai, dass die Infizierten in den nordöstlichen Provinzen entlang der Grenze zu Russland den Erreger wohl länger in sich tragen als bisher dokumentiert ist. Zudem dauere die Zeit, bis sie erste Symptome zeigen, länger an.
Angestellte von chinesischen Unternehmen aus Peking haben bereits die Anweisung bekommen, ihre Geschäftsreisen in die Provinzen zu stornieren. Selbst im benachbarten Tianjin werden Pekinger Geschäftsleute derzeit aus Hotels gewiesen – aus Angst, dass der Besuch aus der Hauptstadt das Virus in sich tragen könnte. Und in der Provinz Yunnan – 3000 Kilometer von Peking entfernt – werden Reisende aus Peking von der lokalen Gesundheitsbehörde aufgefordert, sich testen zu lassen. „Jetzt kann ich verstehen, wie sich die Leute aus Wuhan damals gefühlt haben müssen“, meint eine Bekannte.