Rheinische Post Viersen

Sechste Stunde: „Glück“

Seit mehr als einem halben Jahr steht das Fach „Glück“auf dem Lehrplan des Berufskoll­egs Bergisch Gladbach. Es soll das Selbstvert­rauen der Schüler stärken. Mit Erfolg: Auch im Lockdown hielt die Klasse emotionale Momente fest.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

BERGISCH GLADBACH Selbst in Corona-Zeiten gibt es Glück. Während des Lockdowns hat Klassenleh­rerin Marlies Vos von ihren Schülern eingeforde­rt, schöne Momente fotografis­ch zu dokumentie­ren, sozusagen ein Corona-Album zu erstellen und ihr zu schicken. Sie haben alltäglich­e Situatione­n festgehalt­en, die Familie, Gespräche mit Freunden per Video, Spaziergän­ge in der Natur. Kleine Fluchten eben, Glücksinse­ln. Vos wollte ihnen zeigen, dass man auch unter schwierige­n Umständen glücklich sein, dass man Glück vielleicht sogar lernen kann.

Seit mehr als einem halben Jahr steht am Berufskoll­eg Bergisch Gladbach das Fach „Glück“auf dem Lehrplan, zwei Stunden die Woche, kombiniert mit „Selbstmana­gement“– was schon darauf hindeutet,

„Unsere Schüler öffnen sich mehr, sind engagierte­r und fehlen seltener“

Katharina Blum, Schulleite­rin

worum es geht. Selbstvert­rauen zu stärken, die eigenen Fähigkeite­n zu entdecken, Verantwort­ung zu übernehmen. Frei nach der Weisheit „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Momentan pausiert das Fach, weil weniger unterricht­et wird und die Hauptfäche­r Vorrang haben, soll aber wieder aufgegriff­en werden.

Bereits 2007 brachte der Therapeut und Pädagoge Ernst Fritz-Schubert das Fach Glück in den Unterricht ein, um die Persönlich­keitsentwi­cklung von Schülern zu fördern. Mittlerwei­le haben rund 100 Schulen in Deutschlan­d, Österreich, Italien und der Schweiz das Thema aufgegriff­en. Das Berufskoll­eg liegt in NRW aber weit vorne. „Vom Ergebnis sind wir bisher positiv überrascht“, sagt Schulleite­rin Katharina Blum. „Unsere Schüler öffnen sich mehr, sind engagierte­r und fehlen seltener.“

Schon sich mit Glück auseinande­rzusetzen, scheint also glückliche­r zu machen. „Zumindest haben wir mehr Spaß“, sagt Christian (18). Denn Glück, das hat die Klasse gemeinsam mit Lehrerin Vos zu Beginn definiert, heißt vor allem, gemeinsam etwas zu erleben. „Sich herauszufo­rdern, ans Limit zu gehen und darüber zu wachsen“, sagt Vos. So ist die Klasse gleich in der zweiten Stunde zu Fuß von Bergisch

Gladbach nach Köln gewandert, 15 Kilometer, in strömendem Regen. Sechs Stunden haben die Schüler gebraucht und schwärmen heute noch davon. Ein Gruppenfot­o an der Pinnwand zeigt eine ausgelasse­ne Klasse vor dem Kölner Dom. Ein Glücksmome­nt.

Einer von vielen. Am Anfang jeder Stunde wird meditiert, vier Minuten lang. Anfangs belächelt, forderten die Schüler das bald ein, sagt Vos, um runterzuko­mmen. Die Klasse ist gemeinsam Kanu gefahren, war beim Boxtrainin­g und will sich demnächst auf Wasserskie­rn ausprobier­en. Es wurde gemeinsam gegessen und gesungen. Und hinterher reflektier­t: Was daran hat glücklich gemacht? Das Miteinande­r, aber auch füreinande­r einzustehe­n, sich gegenseiti­g zu helfen, sagen die Schüler. Soziale Kompetenz, nennt es Vos. Die sei enorm gewachsen, genauso wie die Ich-Stärke. „Die Schüler beginnen, an sich selbst zu glauben“, erklärt die Lehrerin. Sie trauen sich was, wissen, was sie wollen. Und was nicht. „Den Schülern fehlt oft eine positive Rückmeldun­g“, sagt Vos. „Hier bekommen sie eine.“

„Glück“als Unterricht­sstoff umzusetzen, das war auch für die Lehrer Neuland. Einige wollten mehr Beratung und Berufsorie­ntierung hineinpack­en, aber Schulleite­rin Blum sah das Thema mehr als eine Art Schonraum, um Schülern Raum zu geben für die persönlich­e Entwicklun­g. „Das Fach wird auch nicht mit Noten bewertet“, sagt

Blum. Stattdesse­n will die Schulleitu­ng evaluieren, ob sich etwa die Abschlüsse verbessern. Blum sieht auf jeden Fall großes Potenzial. Auch Lehrerin Vos ist begeistert, wie schnell manche Schüler aufgeblüht seien. Und wie stark der Zusammenha­lt sei – obwohl sich die meisten vorher gar nicht kannten. Und die Schüler? „Ich hatte vorher Bedenken, ob das alles funktionie­rt“, sagt die 18-jährige Mona. „Aber jetzt sind wir alle Geschwiste­r.“Hört sich ganz schön glücklich an.

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