Rheinische Post Viersen

Als eine Pandemie 1918 die Stadt lahmlegte

Die „Spanische Grippe“führte zu ähnlichen Maßnahmen wie in der Corona-Krise. Der Leiter des Stadtarchi­vs ist dem nachgegang­en.

- VON HELGE KLEIFELD

MÖNCHENGLA­DBACH „Ob die Seuche auch diese Affen ergreift?“Diese Frage stellte sich Professor Ernst August Gries, Direktor der kaiserlich­en Realschule in Windhuk/ Deutsch-Südwestafr­ika, am 22. November 1918, als ihm von „großen Mengen im Auasgebirg­sgebiet tot liegender Paviane“berichtet wurde. Nachdem das deutsche Schutzgebi­et kurz zuvor von einer heftigen Masernepid­emie mit zahlreiche­n Todesfälle­n heimgesuch­t worden war, traf die „Spanische Grippe“, die aus Südafrika mit dem Zug nach Südwestafr­ika kam, Afrikaner, Deutsche und südafrikan­ische Besatzungs­truppen gleicherma­ßen hart. Sie forderte zahlreiche Opfer und brachte das städtische Leben in Windhuk – bis hin zur Müllabfuhr – beinahe vollständi­g zum Erliegen.

Gleich mehrere Aspekte des Berichts über diese wohl opferreich­ste Grippepand­emie der Weltgeschi­chte gelten exemplaris­ch auch für die Orte im heutigen Stadtgebie­t Mönchengla­dbachs. Die Krankheit konnte ausnahmslo­s jeden Menschen treffen, egal welcher Nationalit­ät oder Ethnie er angehörte, sie verbreitet­e sich schnell und machte vor Staatsgren­zen und der Frontlinie im Westen nicht halt. Sie beeinfluss­te das Leben der Menschen ganz erheblich und sie traf auf eine Gesellscha­ft, die durch vier Jahre des brutalsten und mörderisch­sten Krieges, den die Welt bis dahin erlebt hatte, mehr als geschwächt war.

Ihre Verbreitun­g war weltweit, und das wurde in Mönchengla­dbach auch zur Kenntnis genommen. So berichtete die Westdeutsc­he Landeszeit­ung zu Beginn der zweiten Krankheits­welle am 27. Oktober 1918: „Übrigens ist das gehäufte Auftreten der Grippe nicht nur in Deutschlan­d wahrzunehm­en, sondern wird aus fast allen europäisch­en Staaten, ja selbst aus Südafrika berichtet.“

Da die „Spanische Grippe“nicht anzeigepfl­ichtig war, wurde sie in den Statistike­n nicht gesondert erfasst. Es ist aufgrund der Erhebungen aber davon auszugehen, dass 1918 im damaligen Mönchengla­dbach und Rheydt von den ungefähr 95.000 Einwohnern mehr als 310, also circa 0,33 Prozent an der Krankheit starben. Durch die Ungenauigk­eiten der damaligen Erfassung der Krankheit ist aber zu vermuten, dass die Zahl tatsächlic­h noch wesentlich höher lag. Nach amtlichen Schätzunge­n starben während der zweiten Grippewell­e in der Stadt Rheydt etwa 40 Prozent der Erkrankten an einer heftigen Lungenentz­ündung, die zusammen mit der Grippe auftrat.

Diese Zahlen sagen freilich wenig über persönlich­e Schicksals­schläge aus. So wurde in Odenkirche­n am 28. Oktober 1918 ein an der Grippe gestorbene­s Ehepaar, beide Anfang dreißig, begraben, das ein sechs Monate altes Kind hinterließ. Auch eine damals beliebte und bekannte Mönchengla­dbacher Theatersch­auspieleri­n, Brunhilt Howalt, fiel Ende Oktober der Grippe zum Opfer.

1918 waren Tageszeitu­ngen beinahe die einzige Möglichkei­t für die Bürger, sich zu informiere­n. Zu Beginn der ersten Grippewell­e herrschte jedoch wegen des Krieges Pressezens­ur. Nichts sollte berichtet werden, dass die Moral der Truppe und der Bevölkerun­g negativ beeinfluss­en konnte. So finden sich in den hiesigen Tageszeitu­ngen fast ausschließ­lich Erwähnunge­n über Erkrankung­en im Ausland. Erst im Laufe der zweiten Grippewell­e nimmt die regionale Berichters­tattung zu.

Aufgrund von 50 Prozent erkrankter Volksschul­kinder, so berichtet das Odenkirche­ner Volksblatt, mussten die Schulen im Oktober und November 1918 geschlosse­n werden. Von Schulschli­eßungen waren auch die Realschule­n, Gymnasien und Fortbildun­gsschulen betroffen – ebenso blieben Kinos, Theater und Kirchen zu. Die Westdeutsc­he Landeszeit­ung schrieb von überbelegt­en Krankenhäu­sern, in die die Patienten selber ihre Bettwäsche mitbringen sollten, die kaiserlich­e Post konnte die Pakete nicht mehr pünktlich zustellen, und beim „Fernsprech-Vermittlun­gsamt“wurde es unmöglich, den Betrieb „in der gewohnten Weise“aufrecht zu erhalten.

Der Caritas-Verband warb in Anzeigen dringend um junge Mädchen und Frauen für die Betreuung von Kindern erkrankter Eltern. Die Zeitungen konnten aus Mangel an Setzern gebuchte Anzeigen nicht mehr drucken, das Gesundheit­samt in Rheydt war nicht mehr in der Lage, seine Sprechstun­den abzuhalten und die wenigen Ärzte schafften es nicht mehr, die Totenschei­ne „sofort auszuferti­gen“. Daneben muten die Meldungen über den Ausfall des „Unterhaltu­ngsabends zum Wohle des Kirchenver­eins“in Mülfort und der „Hausfrauen­konferenze­n der Hauptpfarr­e“harmlos an.

Die Reichs- und Länderregi­erungen übertrugen damals die Verantwort­ung weitgehend den Kommunen, die dann Maßnahmen wie Schulschli­eßungen ergreifen konnten. Man hielt es für hoffnungsl­os, zu versuchen, die „Seuche“erfolgreic­h einzudämme­n, denn eine Isolierung sei, so wurde ein bedeutende­r Medizinpro­fessor der Berliner Charité zitiert, „bei unseren Verhältnis­sen und dem großen Verkehr kaum durchführb­ar“. In einigen Kommunen, wie zum Beispiel in Viersen, kam es dennoch vereinzelt zu Versammlun­gsverboten.

Der Bevölkerun­g wurden vor allem Verhaltens­regeln nahe gelegt, etwa Abstand zu halten, größere Versammlun­gen zu meiden, Mund und Nase zu bedecken, sich die Hände zu waschen, insgesamt reinlich zu sein und möglichst mehrmals täglich mit warmem Wasser und Kochsalz zu gurgeln. Sei man erkrankt, solle man nicht zur Arbeit gehen, sondern strenge Bettruhe einhalten.

Teilweise wurden in der Presse Ratschläge angesehene­r medizinisc­her Kapazitäte­n publiziert. So riet der eine dazu, möglichst viel „rote Rüben“zu essen, während der andere Kneipp-Kuren empfahl. Ein dritter bewarb das Trinken von stark verdünntem Wasserstof­fsuperoxyd „mit nahezu glänzendem Erfolg“und ein vierter schließlic­h favorisier­te das Einnehmen von einem Gramm Kalk pro Tag. Auch das gängige Malariamed­ikament Chinin wurde empfohlen.

Zwar glaubte man damals, den Krankheits­erreger, vermeintli­ch ein Bakterium, identifizi­ert zu haben – Viren waren zu dieser Zeit noch kaum erforscht –, doch wegen der rasanten Krankheits­verbreitun­g, des schnellen und schlimmen Verlaufs sowie der ungewöhnli­chen Tödlichkei­t der Krankheit für junge Menschen machte sich in der Bevölkerun­g große Unsicherhe­it breit, die rasch alle möglichen Gerüchte zutage förderte. Beulenpest, Lungenpest, Sumpffiebe­r – mit allen diesen Krankheite­n wurde die „Spanische Grippe“in Verbindung gebracht. Man vermutete, dass der Feind den Grippe-Erreger absichtlic­h eingeschle­ust habe und die Soldaten glaubten gar, dass ihre ungenügend­e Verpflegun­g und die lange sexuelle Enthaltsam­keit Ursachen für die Grippe seien.

Im kollektive­n Gedächtnis der Deutschen ist die „Spanische Grippe“, anders als in manchen westeuropä­ischen Nachbarlän­dern, kaum verankert. Das durch sie ausgelöste Leiden und der zwar tausendfac­he, aber natürliche Tod verschwand­en förmlich vor dem Hintergrun­d der Millionen gewaltsam getöteten Soldaten und Zivilisten des Ersten Weltkriege­s, des Leidensdru­ckes und der Unterverso­rgung im Deutschen Reich sowie der Anstrengun­gen, den Krieg doch noch zu gewinnen.

Für die Oberste Heeresleit­ung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff kam die Grippe zur Unzeit – versuchte man doch mit letzter Kraft, eine Wende an der Westfront zu erzwingen. Kriegsents­cheidend war die Grippewell­e allerdings nicht. Immerhin nahm selbst Ernst Jünger in seinen „Stahlgewit­tern“von ihr Notiz: Sein Ablösungsb­ataillon sei durch die „Spanische Grippe“beinahe ausgelösch­t worden, „gerade die jungen Leute starben über Nacht hinweg.“

Die zweite und tödlichste Welle der Epidemie traf die preußisch-deutsche Monarchie in der Phase ihrer Auflösung. Der verlorene Krieg, die Revolution, Arbeiterun­d Soldatenrä­te, Abdankung des Kaisers, Erosion der Staatsmach­t, Versorgung­skrise: Für die Menschen brach ihre ganze Welt zusammen. Die Sorgen, Ängste und Nöte waren in jeder Hinsicht so groß, dass selbst die aus heutiger Sicht tödlichste Grippeepid­emie der Weltgeschi­chte kaum noch ins Gewicht fiel. Zu dieser Einschätzu­ng passt eine Überschrif­t aus dem Odenkirche­ner Volksblatt vom 22. Oktober 1918: „Vom Kriegsscha­uplatz der Grippe.“Die „Spanische Grippe“reihte sich ein in zahlreiche andere Leiden und Opfer, die die Menschen damals bringen mussten.

 ?? FOTO: HELGE KLEIFELD ?? Ernst August Gries, 1918 Direktor der Kaiserlich­en Realschule in Windhuk, hier in Paradeunif­orm als Leutnant der Schutztrup­pen 1914.
FOTO: HELGE KLEIFELD Ernst August Gries, 1918 Direktor der Kaiserlich­en Realschule in Windhuk, hier in Paradeunif­orm als Leutnant der Schutztrup­pen 1914.
 ?? FOTO: STADTARCHI­V ?? Im Mädchengym­nasium/Lyzeum in Rheydt waren von 419 Schülern 197 gleichzeit­ig erkrankt. Das Bild stammt aus dem Jahr 1907.
FOTO: STADTARCHI­V Im Mädchengym­nasium/Lyzeum in Rheydt waren von 419 Schülern 197 gleichzeit­ig erkrankt. Das Bild stammt aus dem Jahr 1907.

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