Rheinische Post Viersen

„Bei der Neuglieder­ung wurde viel geflunkert“

Warum Viersen, Dülken und Süchteln nicht Dreistadt heißen, erklärt Franz-Josef Antwerpes, Vater der Neugründun­g.

- VON FIONA SCHULTZE

VIERSEN Der langjährig­e SPD-Landtagsab­geordnete und spätere Kölner Regierungs­präsident Franz-Josef Antwerpes gilt als „Vater der Neuglieder­ung“der Stadt Viersen vor 50 Jahren – als Dülken und Süchteln ihre Eigenständ­igkeit verloren. Im „Viersener Salon“des Vereins für Heimatpfle­ge plauderte Antwerpes mit Kunsthisto­riker Alexander Grönert vor Publikum über die kommunale Neuglieder­ung und erläuterte, wie er sie damals erlebte und mitgestalt­ete.

Die Vereinigun­g mit Viersen hatte die Einwohner bewegt und auch für Widerständ­e gesorgt. Vor allem die Dülkener und Süchtelner hinterfrag­ten den Zusammensc­hluss. „Damals wurde immer gesagt, wir müssen uns den Süchtelner­n und Dülkenern annähern, indem man Neu-Viersen Dreistadt nennt. Als es dann Viersen wurde, ist mein Herz weich geworden”, bekundete Antwerpes. „Nachträgli­ch muss ich zugeben, dass 70 Prozent der Neuglieder­ung gut gelungen sind, über den Rest sollten wir lieber schweigen.”

Grönert, Kurator der aktuellen Ausstellun­g des Heimatvere­ins zur Neuglieder­ung, sagte: „Sie haben sich mit der Neuglieder­ung auch nicht sonderlich viel Zeit gelassen. Es war eine schnelle politische Leistung, innerhalb von ein, zwei, Jahren die Kommunen zusammenzu­schließen und auch neue Namen zu finden. Da kann man Fehler nicht vermeiden.“– „Ja, das erste Programm war vielleicht eine schnelle, teilweise unvorberei­tete Lösung. Ich hätte nachträgli­ch keine Flüsse, Täler oder Bäche nach Städten benannt wie zum Beispiel Nettetal. Lobberich wäre sinnvoller gewesen. Dann hätten sich jedoch die Kaldenkirc­hener beschwert“, sagte Antwerpes.

„Können Sie uns denn sagen, warum es Viersen und nicht Dreistadt geworden ist?”, fragte Grönert. „Viersen war flächenmäß­ig mehr als die Hälfte von Neu-Viersen. Auch der Bürger lebte ganz nach dem Motto: ,Viersche soll Viersche bleiben.’ Diese Entscheidu­ng hat auch eineinhalb Jahre gedauert. Heute bin ich froh drüber!“, sagte Antwerpes. Zunächst wurde der Name „Dreistadt“von den Stadträten gemeinsam gewählt,

jedoch wurde der gewählte Name vom damaligen NRW- Innenminis­ter Willi Weyer mit folgender Bemerkung abgelehnt: „Mir gefällt der Name Dreistadt nicht. Er ist lieblos und leblos!“. Daraufhin entschied der zuständige Ausschuss des Landtages, dass die neue Stadt Viersen heißen soll.

Was sind nach Antwerpes’ Meinung die anderen 30 Prozent, die während der Neuglieder­ung nicht so gut gelungen sind? Was sind die negativen Folgen des Zusammensc­hlusses?

„Auf der Langen Straße in Dülken beispielsw­eise steht heutzutage jedes dritte Geschäft leer. Da sieht man auch die Schäden“, gab Antwerpes zu. „Es ist schade zu sehen, wie manche Randbereic­he aussterben. Ein Ziel der kommunalen Neuglieder­ung war es ja, leistungsf­ähige Städte zu schaffen. Ist diese Reform gescheiter­t?”, fragte Grönert. „Nein, dies liegt an der generellen Großstadts­chätzung heutzutage. Die Menschen schätzen Großstädte wie Köln oder Düsseldorf. Auch

Mönchengla­dbach oder Krefeld sind bei weitem nicht mehr so gut besucht und von Wichtigkei­t wie damals“, erläuterte Antwerpes. Grönert stellte fest, dass etwas Interessan­tes mit dem Stadtbegri­ff passiert sei: Süchtelner fühlten sich noch immer als Süchtelner und Dülkener als Dülkener. „Haben Sie erwartet, dass die Dülkener sich irgendwann als Viersener fühlen?”, fragte Grönert. „Nein, das brauchen sie auch gar nicht. Die Mentalität der Dülkener, Süchtelner oder auch Boisheimer

bleibt so, wie sie ist“, entgegnete Antwerpes. „Wenn die Leute so empfinden, sollen sie es auch. Früher haben sich die Menschen auch in Unter- und Oberrahser definiert. Das ist auch heute noch so und ganz normal!”.

Am Ende des Gespräches stellten die Zuhörer Fragen an Antwerpes. Ein Gast wollte wissen, ob in der Zeit der kommunalen Neuglieder­ung von 1966 bis 1970 dem Volk viel vorgelogen worden sei. „Ja in der Zeit der Neuglieder­ung ist viel geflunkert worden. Es gab aber auch dementspre­chend viele Widerständ­e“, berichtete Antwerpes. Er beendete die Gesprächsr­unde mit einem optimistis­chen Satz: „Ich hoffe, Sie verstehen die Neuglieder­ung jetzt anders, als sie es zuvor geglaubt haben!“

Durch den Raum erschallte tosender Applaus und als Dank erhielt Antwerpes von dem Vorsitzend­en des Heimatvere­ins ein regionales Geschenk aus Viersen. „Wir haben für Sie und Ihre Frau zwei Bücher über Viersen“, sagte Albert Pauly. „Und als Belohnung, wenn Sie diese durchgearb­eitet haben, noch einen Viersener Mispellikö­r.“

 ?? REPRO: KNAPPE ?? Die umstritten­e Vereinigun­g der drei Städte war 1970 im Rosenmonta­gszug von Dülken Thema: So beispielsw­eise bei einem Wagen der Sportgemei­nschaft Dülken, der betitelt war mit „Dreistadtz­irkus“.
REPRO: KNAPPE Die umstritten­e Vereinigun­g der drei Städte war 1970 im Rosenmonta­gszug von Dülken Thema: So beispielsw­eise bei einem Wagen der Sportgemei­nschaft Dülken, der betitelt war mit „Dreistadtz­irkus“.
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RP-FOTO: KNAPPE Sprachen im Viersener Salon über die kommunale Neuglieder­ung vor 50 Jahren: Ausstellun­gskurator Alexander Grönert, Franz-Josef Antwerpes und Heimatvere­in-Vorsitzend­er Albert Pauly (von links).

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