Ein Maulwurf verschreckt die Zeugen der Kriegsverbrechen
Das neue Sondergericht in Den Haag soll für die Aufarbeitung der Taten während des Kosovo-Kriegs 1999 sorgen. Doch es gibt Probleme.
BELGRAD/PRISTINA Nach langer Vorbereitung beginnen die Justizmühlen des Kosovo im fernen Den Haag endlich zu mahlen. Die Ersten, die vor dem bereits 2017 eingerichteten Sondergerichtshof angeklagt sind, wurden jüngst verhaftet, ein halbes Dutzend neuer Richter ist frisch vereidigt. Doch schon vor der Eröffnung der ersten Kriegsverbrecherprozesse ist das Funktionieren des Gerichts ernsthaft bedroht: Der Öffentlichkeit zugespielte Akten gefährden die Sicherheit der Zeugen.
Eigentlich soll das Sondergericht für die juristische Aufarbeitung der von der Untergrundarmee UÇK begangenen Verbrechen im und nach dem Kosovo-Krieg 1999 sorgen. Doch bereits zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen sind der Öffentlichkeit über den UÇK-Veteranenverband vertrauliche Gerichtsakten
mit den Namen von anonymen Zeugen zugespielt worden: Das Vertrauen in einen wirksamen Zeugenschutz ist deshalb früh nachhaltig untergraben.
Der Gerichtsmaulwurf ist bislang unbekannt. „Jemand“mit Hut und Sonnenbrille habe die Kopien von 4000 Gerichtsakten im Büro des Veteranenverbands ohne Angaben zu deren Herkunft abgeladen, informierte dessen Vorsitzender Hysni Gucati: Die Medien sollten deren Inhalt wiedergeben und zeigen, dass der Gerichthof ausschließlich gegen Kosovo-Albaner ermittle, um den „Willen Serbiens zu erfüllen“.
Von Warnungen, dass die Verbreitung geheimer Gerichtsakten eine Straftat sei, zeigte sich Gucati kaum beeindruckt. Wenn das Gericht seine Akten nicht zu schützen wisse, sei es keineswegs seine Aufgabe, das zu tun, ätzte er: „Ich werde alles veröffentlichen, was vom Sondergerichtshof
über unsere Schwelle gelangt.“Vorläufig wird er dazu keine Gelegenheit mehr haben. Maskierte Polizisten haben mittlerweile den inzwischen nach Den Haag überstellten Verbandschef festgenommen. Die Anklage wirft ihm die Einschüchterung von Zeugen vor.
Ob unter der Gerichtsbarkeit der UN-Verwaltung Unmik, dem UN-Kriegsverbrechertribunal oder der EU-Justizmission Eulex: Tatsächlich litten bisher alle juristischen Versuche, Kriegsverbrechen der UÇK aufzuklären, unter dem mangelhaften Schutz von Zeugen. Nachdem mehrere Zeugen unter merkwürdigen Umständen gestorben waren oder ihre Aussagen zurückzogen hatten, wurde der frühere UÇK-Kommandant und Ex-Premier Ramush Haradinaj vom UN-Tribunal 2012 wegen Mangels an Beweisen auch in zweiter Instanz freigesprochen. Im Eulex-Prozess gegen den Politiker Fatmir Limaj sollte 2015 als geschützter „Zeuge X“der frühere Aufseher eines UÇK-Gefangenenlagers aussagen. Doch bevor er in den Zeugenstand treten konnte, wurde der zu seiner Sicherheit nach Deutschland gebrachte Kronzeuge in einem Duisburger Park erhängt aufgefunden. Die deutschen Polizeibehörden sprachen damals von mutmaßlichem Suizid.
2010 hatte der Europarat-Sonderberichterstatter
Dick Marty in seinem Rapport früheren UÇK-Kommandanten schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen. Auf Druck des Westens beschloss das kosovarische Parlament 2015 widerwillig die Schaffung eines Sondergerichts: Obwohl offiziell Teil des Justizsystems des Landes, ist es seit 2017 in Den Haag angesiedelt und mit ausländischen Richtern besetzt. Auch weil es sich nicht mit den von serbischen Truppen begangenen Kriegsverbrechen beschäftigt, stehen viele Kosovo-Albaner dem als einseitig empfundenen Gericht skeptisch gegenüber. Zwar hat der Gerichtshof im Juni auch eine Anklage gegen den Präsidenten des Kosovo, Hashim Thaçi, angekündigt. Doch ob ihm die Aufarbeitung von UÇK-Verbrechen tatsächlich gelingt, ist angesichts der bisherigen Vorgänge und Einschüchterungsversuche mehr als fraglich.