„Zölibat unterdrückt nicht meine Sexualität“
Die Kirche müsse nach den Worten des Münsteraner Bischofs heute akzeptieren, dass der Mensch in seinen Entscheidungen frei und nicht mehr abhängig von Autoritäten sei. Priester müssten ein Gespür für ihre eigene Sexualität bekommen.
Herr Genn, Sie waren der erste Bischof der katholischen Kirche hierzulande, der für die Entschädigungen für Betroffene sexualisierter Gewalt keine Kirchensteuermittel verwenden wird, sondern Mittel des Bischöflichen Stuhls in Höhe von rund 5,2 Millionen Euro.
GENN Das ist aber nicht mir allein zu verdanken. Denn schon unter meinem Vorgänger wurde eingeführt, dass die Mittelverwendung des Bischöflichen Stuhls vom Kirchensteuerrat entschieden wird. Und der hat jetzt beschlossen, aus diesen Mitteln Zahlungen an die Betroffenen vorzunehmen.
Man weiß, dass der sexuelle Missbrauch durch Priester auch mit dem System Kirche zu tun hat. Was muss am System geändert werden? GENN Jede gesellschaftliche Gruppe kann ein System sein. Das System Kirche ist vielleicht vergleichbar mit einer Familie, in der man vieles oft unter sich klären möchte. Wenn es Schwierigkeiten oder Auseinandersetzungen gibt, werden die Fenster geschlossen, damit die Nachbarn nichts hören. Und so ist man in der Kirche auch lange Zeit mit sexuellem Missbrauch umgegangen. Was muss sich ändern? So bürokratisch es klingt: Wir brauchen eine professionelle, klar strukturierte Aktenführung. Und wir dürfen die Fälle nicht ausschließlich von Klerikern prüfen lassen und dabei den Versuch unternehmen, Dinge ohne größere Öffentlichkeit und ohne Beschädigung der Kirche klären zu lassen. Das geht einfach nicht. Wir sind schließlich eine öffentliche Einrichtung. Das System hat immer nur auf sich geschaut und gar nicht gesehen, was dem Menschen angetan wurde. Man hat das alles eher im Bereich von Sünde und Schuld des Priesters angesiedelt. Es war der große Systemfehler, dass das große menschliche Leid lange Zeit überhaupt nicht bedacht wurde.
Das zölibatäre Leben der Priester gehört nicht zum System?
GENN Wir haben erst durch die Missbrauchsstudie erkannt, dass sich in diesem System sexuell unreife Menschen verbergen können – heterosexuelle wie homosexuelle, weil sie denken, dass der Zölibat sie schützt. Und das muss möglichst komplett verhindert werden. Das ist das Problem, und nicht der Zölibat selbst, der ja nicht meine Sexualität unterdrückt. Wenn man als zölibatär lebender Mann kein Gespür für seine eigene Sexualität hat, dann stimmt etwas nicht.
Wie kann eine größere Öffentlichkeit in der katholischen Kirche hergestellt werden? Das Erzbistum Köln hat eine Kanzlei mit der Durchsicht der Akten beauftragt und will demnächst verantwortliche Mitarbeiter benennen, die bei der Aufarbeitung nicht sorgfältig genug gewesen sind. Wäre das auch für Münster denkbar?
GENN Wir haben eine Studie zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster an die Universität von Münster in Auftrag gegeben. Wir haben damit die gesamte Autorität des Verfahrens der Universität übertragen. Das heißt: Dort wird entschieden, was veröffentlicht werden soll und veröffentlicht werden kann. Der Universität stehen sämtliche Akten zur Verfügung;
und die Wissenschaftler entscheiden, was sie sehen wollen und was nicht.
Muss die Kirche insgesamt die Öffentlichkeit mehr teilhaben lassen an ihren Diskussionen – beispielsweise an Sitzungen der Deutschen Bischofskonferenz?
GENN Auf Ebene des Bistums geschieht das schon oft. In der Bischofskonferenz, das ist aber auch keine kirchliche Besonderheit, brauchen wir auch einen Raum, in dem wir ganz frei untereinander reden können – ohne dass wir uns davon leiten lassen, dass jemand zuhört. Aber wir denken darüber nach, wo und wie eine größere Teilhabe der Öffentlichkeit möglich sein kann; es muss allerdings gut abgewogen werden.
Der Reformprozess wird von Kritikern mit der Warnung begleitet, dass mit den Debatten über den Zölibat oder ein Diakonat für Frauen eine Abspaltung der deutschen Kirche von der Weltkirche drohe. Muss die Weltkirche vielgestaltiger, bunter werden?
GENN Das ist genau die Frage. Wobei ich zunächst sehr dafür plädiere, dass erst einmal die heutigen Rahmen ganz ausgeschöpft werden. Da würde sich schon eine gewisse Buntheit ergeben. Dann müssen wir überlegen, wie wir unsere Fragen ins Gespräch mit der universalen Kirche bringen, um deutlich zu machen, dass wir uns gar nicht von der Weltkirche wegbewegen wollen.
Die inzwischen bundesweite Bewegung von Maria 2.0 hat in Münster ihren Anfang genommen. Können Sie das Anliegen nach mehr Mitsprache und dem Weiheamt für Frauen verstehen?
GENN Ich kann den Ärger der Frauen verstehen. Ihre Kritik, dass sie in der katholischen Kirche oft anders behandelt werden als Männer, muss man doch ernstnehmen. Über die von Ihnen genannten Themen denke ich allerdings sehr differenziert anders!
Wieviel Zeit hat die Kirche noch für Reformen, bevor es möglicherweise zu spät ist und viele Kirche schließen müssen, weil die Gläubigen in großer Zahl fortbleiben und erstmals auch die Kirchensteuereinnahmen sinken werden?
GENN Die Uhr für die Zeit der Kirche wird von jemand anderem als von uns gedreht. Napoleon hat vor gut zwei Jahrhunderten gesagt, der Laden sei ausgeleiert, es habe jetzt ein Ende mit der katholischen Kirche. Doch danach hat sie sich wieder erneuert. Das kann auch heute wieder passieren. Der Unterschied ist: Wir müssen heute als Kirche akzeptieren, dass der Mensch in seinen Entscheidungen frei und nicht mehr abhängig von Autoritäten ist. Der Glaube ist die persönliche Entscheidung jedes einzelnen. Und wenn etwa ein junger Mensch mit der Kirche nichts mehr anfangen kann, dann ist das so, auch wenn ich das sehr schmerzlich empfinde und alles tue, um Menschen wieder mit der Kirche in Berührung zu bringen. Wir sind eine freiwillige Entscheidungsgemeinschaft. Damit können wir als Kirche noch ganz schlecht umgehen. Denn wir haben ein System errichtet mit ganz vielen Kirchen, und wir haben gemeint, wenn wir die nur gut versorgen, kommen die Leute einfach. Aber das ist nicht mehr der Fall. Es wird noch viel Schwund geben, aber wir werden keine Sekte werden. Da ist noch so viel Power dahinter, dass man sich in 20 Jahren wundern wird, was bei der alten Kirche noch alles möglich ist.
Muss die Kirche politischer werden – etwa zum Thema Bewahrung der Schöpfung?
GENN Es gibt ja Politiker, die sagen, wir sollen den Mund halten. Genau das finde ich nicht. Wir können zum Klimawandel nicht schweigen, auch nicht zur Flüchtlingsfrage. Und wir müssen etwas zu Europa sagen. Ich kann diese Nationalismen und die Populisten einfach nicht ertragen. Ich werde nicht schweigen! Auch Papst Franziskus hat in seiner Enzyklika sehr deutliche Worte gefunden. Ich kann Politikern nicht vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Aber ich muss Probleme benennen, weil ich Christ bin. So halte ich etwa das, was auf Lesbos geschieht, für eine europäische Katastrophe. Und wenn Herr Trump den Klimawandel und die Erderwärmung einfach leugnet und prophezeit: ‚Es wird kühler werden‘, kann ich nur sagen: Was für ein Unsinn!