„Der ,Tatort’ darf kein Kammerspiel sein“
Für den WDR-Fernsehdirektor ist die Krimireihe seit 50 Jahren erfolgreich, weil die Filme Heimat spiegeln.
KÖLN Als ARD Koordinator Fiktion ist WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn auch für die Platzierung des „Tatorts“zuständig. Ein wichtiger Job, denn die Krimi-Reihe versammelt regelmäßig zehn Millionen Menschen vor dem Fernseher. Vor 50 Jahren wurde der erste Film ausgestrahlt, und ein Ende des Formats ist noch lange nicht in Sicht.
Herr Schönenborn, können Sie sich an Ihren ersten „Tatort“erinnern? SCHÖNENBORN Ich weiß nicht mehr, welcher der erste war. Aber ich weiß, dass ich als Heranwachsender „Reifeprüfung“mit Nastassja Kinski gesehen habe, dass ich fasziniert war und dass das in der Schule Thema war. Bei der Erstausstrahlung war ich 13, vielleicht habe ich auch eine Wiederholung gesehen, aber daran erinnere ich mich immer noch.
Hatte der „Tatort“damals schon eine herausgehobene Rolle im Fernsehabend?
SCHÖNENBORN Ich glaube schon, dass der „Tatort“etwas Besonderes war. Aber in den ersten Jahrzehnten wurde er nicht wöchentlich gesendet. Es hat mit einem „Tatort“im Monat begonnen, irgendwann wurden es zwei, aber erst in den 90er Jahren ist daraus diese feste Verabredung am Sonntagabend geworden. Und damit erst das, was er heute ist.
Hatten Sie damals einen Lieblingskommissar, und haben Sie heute einen?
SCHÖNENBORN Heute bin ich befangen, das darf ich nicht sagen. (lacht) Damals fand ich die Essener um Hansjörg Felmy klasse, ich habe aber auch wunderbare Erinnerungen an „Tatort“-Abende mit Schimanski während meines Studiums.
Warum kommen so viele Kult-Teams aus NRW? SCHÖNENBORN Na ja, der „Tatort“hat ja seinen Ursprung beim WDR, und das war im Sender stets eine besonders herausgehobene Aufgabe. Vielleicht ist das ein Grund. Vielleicht haben wir im Westen auch stärker den Mut gehabt, Milieus zu zeichnen, die Kultur der Region lebendig werden zu lassen. Der Essener „Tatort“war so eine Milieuzeichnung, die Dortmunder sind es heute, dann Münster als „liebevolle Provinz“, Schimanski war es sowieso. Da lassen sich viele nennen.
Aber nicht nur der NRW-„Tatort“, die Reihe an sich liegt seit Jahrzehnten vorne in der Zuschauergunst. Woraus resultiert dieser Erfolg? SCHÖNENBORN Zum einen ist der „Tatort“ein Date, das man sich gar nicht in den Kalender eintragen muss. Bei den Sehgewohnheiten gibt es zwei Trends: Der eine ist, als Zuschauer oder Zuschauerin der „Souverän“zu sein und selbst bestimmen zu wollen, wann man die Nacht durchmacht mit einer Serie – und der andere ist der Wunsch, Teil eines Ereignisses zu sein, dabei sein zu wollen, wenn andere es auch sind. Dieses Bedürfnis erfüllt der „Tatort“wie sonst nur WM-Endspiele. Außerdem ist der „Tatort“ein starkes Stück Föderalismus, er hat die Qualität, überall zu Hause zu sein, ob in Nord, Süd, Ost oder West, auf Dörfern und in Großstädten – er spiegelt die Heimat.
Teilen Sie die Kritik, dass es zu viele Teams gibt, dass man den Überblick verliert?
SCHÖNENBORN Ich verstehe die Kritik. Momentan haben wir 20 Teams in 16 Bundesländern, darüber hinaus eins in Österreich und eins in der Schweiz. Ich glaube aber, dass diese Zahl nötig ist, wenn wir das Land abbilden wollen. Nun sind nicht alle Teams gleich präsent, und nicht alle sind gleich erfolgreich, deshalb kann ich das Empfinden verstehen. Aber ich glaube, eine deutliche Reduzierung würde dem „Tatort“auch seinen Zauber nehmen.
Als ARD-Koordinator Fiktion müssen Sie auch die „Tatort“-Wünsche aller Sendeanstalten unter einen Hut bringen. Das ist nicht immer leicht, oder?
SCHÖNENBORN Na klar. Wenn man sich den „Tatort“als Familie vorstellt, dann sind da alle Charaktere vertreten, und meine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass wir eine Familie bleiben. Dazu gehört, dass wir uns immer verbindlich auf Regeln, aber auch auf Ausnahmen verständigen, und dass wir uns gegenseitig unsere Planung früh offenlegen. Wir müssen wissen, welche Bücher, welche Themen in Arbeit sind. Ich finde, das klappt für eine Familie ziemlich gut.
Greifen Sie denn konkret durch, wenn Ihnen ein Film nicht gefällt und sagen etwa, dass ein Ende umgeschrieben werden muss? SCHÖNENBORN Nein. Wir sind ein Verbund von Rundfunkanstalten, die am Ende alleine und souverän entscheiden, was produziert wird. Meine Entscheidungsmacht ist, dass ich die „Tatorte“im Programm platzieren kann und im Zweifel auch sagen könnte, wir senden einen Film erst einmal gar nicht. Aber das wäre der Extremfall und würde auch nur in Absprache mit dem verantwortlichen Sender passieren. Bisher hatten wir den aber noch nicht. Es gibt Fälle, in denen ich in unserer ARD-Runde kritische Anmerkungen gemacht habe, die später dann auch von anderen geteilt worden sind. Ich liege mit meinem Urteil aber auch nicht immer richtig und bin froh, dass ich nicht zum Beispiel über Inhalte und Ausrichtung eines jeden „Tatorts“mitentscheiden muss. Das würde ich mir auch nicht zutrauen.
Fast jeden Abend wird mittlerweile ein „Tatort“in den dritten Programmen wiederholt. Haben Sie keine Angst vor Übersättigung? SCHÖNENBORN Darüber sprechen wir in der Tat, beobachten auch sehr genau das Publikum. Wenn man letzteres fragen würde, würde es nein sagen. Wir haben jetzt im WDR gerade die Reihe der alten
Schimanskis – neu in HD-Qualität –, die sehr gut angenommen wird. Zwei Aspekte führen dabei sicher aus einer eventuellen „Übersättigungs“-Falle heraus: Bei mittlerweile 1100 Filmen gibt’s natürlich einen großen Fundus, und so kann es selbst in der Wiederholung Abwechslung geben. Außerdem ist es ein tolles Erlebnis, digital bearbeitete alte „Tatorte“zu sehen.
Der „Tatort“war immer auch eine filmische Spielwiese. Befürworten Sie Experimente?
SCHÖNENBORN Manche Experimente gefallen mir gut, andere weniger. Aber mein persönlicher Geschmack ist nicht der Maßstab. Experimente sind zwingend nötig, wenn wir Entwicklung vorantreiben wollen. Und vor allem, wenn wir ein Signal an die kreative Szene senden möchten, dass es bei uns Raum gibt, sich auszuprobieren, einen Stil zu entwickeln. Der Maßstab ist also nicht, ob es mir gefällt, ehrlicherweise auch nicht mal im Einzelfall, ob es dem Publikum gefällt, sondern der Maßstab ist: Trauen wir uns das zu?
Und das wird auch so bleiben? SCHÖNENBORN Definitiv. Wir haben eine Verabredung darüber, in welchem Maß wir das über die Jahre machen wollen. Wir beraten sehr kritisch darüber, was einzelne Experimente bedeuten und wie wir sie bewerten.
Wo gibt es noch Verbesserungsbedarf? Fehlt beispielsweise eine
Facette bei den Ermittlerduos? SCHÖNENBORN Ich glaube, dass wir gute Schritte gegangen sind, was die Diversität der Teams angeht, aber dass wir diesen Weg weitergehen müssen. Das gilt nicht nur für die Besetzung mit Frauen und Männern, das gilt auch für die unterschiedliche Herkunft der Figuren, für „Typen“in den einzelnen Teams und letztlich auch für die Rollen, in denen Kommissarinnen und Kommissare sozial angesiedelt sind. Wie wir diese Vielfalt der Gesellschaft in den Teams abbilden, das war immer schon ein Thema und wird es auch bleiben.
Gehört dazu auch, etwa mehr weibliche Drehbuchautoren zu engagieren? Das wurde in der Vergangenheit auch bemängelt. SCHÖNENBORN Die Kritik ist immer dann berechtigt, wenn wir nicht die Breite der Kreativen für den „Tatort“nutzen und einsetzen. Wir haben da vor einigen Jahren schon begonnen umzulenken. Es ist zum Beispiel inzwischen so, dass Produktionsfirmen uns immer auch eine weibliche Variante für die Regie anbieten müssen.
Wie steht es um die finanzielle Zukunft des „Tatorts“?
SCHÖNENBORN Der „Tatort“ist „sicher“. Natürlich macht unsere Finanzierung in allen Bereichen Einschnitte nötig, aber dabei werden wir berücksichtigen, was bei unserem Publikum höchste Priorität hat.
Irgendwo gibt es sicher eine Budget-Grenze, die der Qualität zuliebe nicht unterschritten werden sollte. SCHÖNENBORN Ein „Tatort“darf kein Kammerspiel sein.
Würden Sie selbst gerne mal einen Cameo-Auftritt in einem „Tatort“übernehmen, wenn das noch nicht der Fall war?
SCHÖNENBORN (lacht) Ich war noch nicht in einem „Tatort“zu sehen und würde mich da auch vornehm zurückhalten. Zumal ich gelernt habe, dass Leichen besonders schwer zu spielen sind, also das käme schon mal gar nicht in Frage.
Aber wenn Sie eine Rolle übernehmen würden, welches Ermittlerteam wäre dann Ihre erste Wahl? SCHÖNENBORN Jetzt wollen Sie mich aufs Glatteis führen. Als Chef – egal wo – muss man immer sehr vorsichtig sein, was eigene Wünsche angeht, die werden sonst schneller erfüllt, als einem das lieb ist. Deshalb auch hier: Klares „Nein“bezüglich einer Rolle im „Tatort“.