Das FührungsProblem trägt ein neues Gewand
Begeisterung, die Freude, die Verblüffung, die Herrlichkeit. Aber es waren eben nur das 3:4, der Endstand eines Spiel, das Bayer Leverkusen gewonnen hat. „Es ist ein sehr bitterer Moment und wirklich schade, dass wir diese außergewöhnlichen Wochen nicht positiv abschließen konnten“, sagte Lazaro dann auch. Die zweite Saison-Niederlage der Borussen machte sein Heldenstück zur Kunst um ihrer selbst willen, l‘art pour l‘art, ein Prädikat, das Fußballer schmerzt, denn das Lob ist nicht nur süß, sondern auch bitter wie Säure, weil das Eigentliche nicht passt. „Es ist schade mit dem Ergebnis“, sagte Lazaro.
Was wäre das gewesen, wenn er, wie einst zum Beispiel bei der WM 1982 Klaus Fischer mit seinem Fallrückzieher zum 3:3 im Halbfinale gegen Frankreich, mit diesem herrlichen Treffer noch für einen Punkt gesorgt hätte, für das famose Ausrufezeichen einer belohnten Aufholjagd. Dann wäre die Geschichte rund gewesen, dann hätte dieser außergewöhnliche Fußball-Moment seine ganze Wirkung entfaltet, ohne Wenn und Aber. Er zeigt auch so den unbedingten Willen, den Lazaro hatte, in dieser Szene das Tor zu machen, er wollte etwas bewegen, egal wie, das ist die Tiefenstruktur des Torkunstwerkes. Aber eben auch, dass es nicht mehr reichte, ganz profan und nüchtern: Borussia hat in Schönheit verloren.
Zuvor, als es einfacher war, den Ball ins Netz zu bekommen, bei den Chancen von Marcus Thuram, Lars Stindl und vor allem Hannes Wolf, da klappte es nicht, doch wäre es da wohl im Sinne des Resultats nachhaltiger gewesen, es hätte das 3:2 gebracht und Leverkusen hart getroffen. Andererseits: Hätte Borussia geführt oder schon ausgeglichen, hätte es vielleicht Lazaros Einlage nicht gegeben. Am liebsten würde man sie lösen aus der Niederlage, extrahieren als eine Essenz des Fußballs und seiner Seele. Das würde dem Tor gerecht werden wegen seiner Schönheit. Das schnöde Ergebnis ist hingegen ein Kunstbanause.
Einmal neun Minuten, einmal elf Minuten – so kurz hatten Borussias Führungen in Leverkusen Bestand. Dass die Freude noch kürzer anhalten kann, hat Gladbach in dieser Saison bereits dreimal erlebt. Gegen Mainz war das 1:0 nach acht Minuten dahin, am Ende gewann Marco Roses Mannschaft dennoch mit 3:2. Gegen Wolfsburg vergingen acht Minuten zwischen Führung und Ausgleich, in Mailand sogar nur sechs (wovon mehr als die Hälfte für die Überprüfung von Jonas Hofmanns Tor durch den Video-Assistenten draufgegangen war).
Nach zwei Zu-Null-Spielen hat das leidige Thema dieser Saison ein Comeback erlebt, beim 3:4 präsentierte sich das Führungs-Problem aber im neuen Gewand. Gleich zweimal in einem Spiel hatte Borussia bislang noch nicht den Ausgleich kassiert. Und bislang hatte sie am Ende immer wenigstens einen Punkt geholt. Mit keinem einzigen ging es Sonntag nach Hause, womit die Borussen wettbewerbsübergreifend schon elf Punkte verspielt haben. Vier in der Champions League, sieben in der Bundesliga – macht im Schnitt einen pro Spiel.
Den Wert aus den 42 Partien der Vorsaison hat Borussia damit schon übertroffen. Zwar verabschiedete sie sich damals aus beiden Pokal-Wettbewerben trotz zwischenzeitlicher Führung (1:2 im DFB-Pokal gegen Dortmund, 1:2 gegen Basaksehir in der Europa League), dafür war das Team in der Liga kaum verwundbar. 22 Führungen, 20 Siege, zwei Unentschieden – und die Gegentore gegen Leipzig und Hoffenheim fielen jeweils ganz spät. Im Schnitt 2,82 Punkte nach einer Führung bedeuteten sogar den Liga-Bestwert. Nur Leipzig und Hoffenheim blieben ebenfalls unbesiegt, wenn sie einmal vorne lagen.
In dieser Saison haben lediglich Freiburg (neun) und Mainz (acht) mehr Zähler verspielt als Gladbach. Und die Bilanz wäre noch schlechter, wenn Borussia in Mainz nicht eindrucksvoll zurückgekommen wäre. „Wir haben die Führungen leichtfertig wieder abgegeben, weil wir einfach nicht so griffig waren, wie wir uns das vorgestellt haben“, erklärte Rose in Leverkusen. Vor ein paar Wochen waren noch Standards der Knackpunkt gewesen, nun ließ sich Borussia als Gastmannschaft auskontern. Was man Roses Team zugutehalten kann: Immerhin geht es häufig in Führung. Nur in Dortmund (0:3) lag Gladbach nicht vorne, macht eine Quote von 91 Prozent in allen Pflichtspielen. Vergangene Saison lag der Wert nur bei 60.