Was der Lockdown mit der Psyche macht
Der ärztliche Direktor der LVR-Klinik spricht über reale Ängste, Wut und den Sinn seelischer Selbstfürsorge.
Wie wirken sich Corona und Lockdown auf die Psyche aus? MARGGRAF Die vielen Monate im pandemie-bedingten Ausnahmezustand haben dazu geführt, dass die psychische Belastung der Menschen zugenommen hat und Menschen teils auch aggressiv und gereizt reagieren. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die diese Entwicklung erklären könnten.
Zum Beispiel?
MARGGRAF Trotz der medialen Präsenz sind immer wieder Informationsmängel über das Wesen der Virusinfektion festzustellen. Die Angst vor Ansteckung und Erkrankung ist mitunter hoch, und die Sorge um die eigene Gesundheit beschäftigt viele Menschen. Immer neue Höchststände der gemeldeten Infektionszahlen und die scheinbar wirkungslosen oder jedenfalls unzureichenden Maßnahmen tragen dazu bei. Erhebliche Einschränkungen im alltäglichen Leben sind für viele Menschen spürbar. Die Belastungen der Kontaktbeschränkungen und der zunehmenden Isolation dürfen für den Menschen als soziales Wesen nicht unterschätzt werden, insbesondere auch solche bei besonderen Anlässen wie etwa Trauerfeiern.
Was verursachte Extra-Stress? MARGGRAF Einschränkungen des Bewegungsradius, das Fehlen täglicher Routinen und die fehlende Verfügbarkeit von Ausweichmöglichkeiten wie Hobbys oder Freizeitvergnügen wirken sich als Belastungsfaktoren aus. Mit der Pandemielage sind auch viele soziale Härten verbunden, wie Kurzarbeit oder der reale oder drohende Jobverlust sowie einhergehende finanzielle Probleme.
Welche Rolle spielen Schulschließungen und Homeoffice? MARGGRAF Durch Unterrichtsausfall und Homeoffice mit weniger Rückzugsmöglichkeiten und zusätzlichen Stressfaktoren etwa durch zusätzliche Kinderbetreuung kommt es vielfach zu Schwierigkeiten im familiären Zusammenleben. Nicht selten führt dies zu Streitigkeiten in der Familie und einer Zunahme der häuslichen Gewalt. Das zuvor für viele nicht vorstellbare Ausmaß und die Dauer der Pandemie, Gefühle von Hilflosigkeit und Zukunftsängste können Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringen. Permanente Belastungsfaktoren aber sind auch krankheitsfördernd.
Wie äußert sich das?
MARGGRAF Während die einen sich zurückziehen, wie gelähmt sind, mit ihrer Verzweiflung alleine bleiben und möglicherweise eher eine
Angststörung oder Depressionen entwickeln, reagieren andere offensiv, die Hemmschwelle für Aggression kann sinken. Eine typische Reaktion auf die anhaltenden wahrgenommenen oder realen Ängste ist Wut, die in Verbindung mit wachsenden Frustrationen zu vermehrten Konfliktsituationen führen kann, die dann auch eskalieren können.
Was kann ich tun, um vorzubeugen?
MARGGRAF Menschen haben sehr unterschiedliche Fähigkeiten, mit Krisensituationen fertig zu werden. Und so unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Versuche, mit solchen Krisensituationen umzugehen. Ein wichtiges Stichwort ist das der Selbstfürsorge. Es ist bekannt, dass Bewegung und sportliche Betätigung
das Immunsystem stärken. Ein Spaziergang im Wald kann der Seele guttun und Spannungen abbauen. Sonne und frische Luft heben die Stimmung. Gesunde Ernährung mit ausreichend Vitaminen und Mineralstoffen ergänzt das. Daneben ist die seelische Selbstfürsorge wesentlich.
Seelische Selbstfürsorge – was soll das sein?
MARGGRAF Dabei gilt es, einfach gesagt, regelmäßig Dinge zu tun, die einem guttun, die zu Entspannung und Wohlbefinden beitragen. Achtsamkeit im Alltag kann da hilfreich sein, also auf Kleinigkeiten zu achten und sich daran zu erfreuen. Aber auch, in besonderer Weise auf sich selbst und auf die Menschen in seinem Umfeld zu achten.
Was sollte ich tun, wenn ich bei mir
Wesensänderungen feststelle? MARGGRAF Wenn man bei sich selbst psychische Probleme feststellt, kann man sich zunächst einmal an seinen Hausarzt oder seine Hausärztin wenden. Darüber hinaus gibt es inzwischen eine Reihe von Beratungsangeboten, wie etwa das Sorgentelefon der LVR-Klinik Viersen (montags bis donnerstags, 13 bis 14 Uhr; 02162 96-4925). Selbstverständlich können Betroffene auch jederzeit die Hilfe der Klinik in Anspruch nehmen. Wir bieten ambulante Beratung und Therapie und insbesondere auch die Möglichkeiten der teilstationären oder stationären Behandlung.
Was tue ich, wenn ich an jemandem in meinem Umfeld Veränderungen bemerke?
MARGGRAF Schwieriger wird es oft, wenn man bei Angehörigen ein psychisches
Problem vermutet oder bemerkt. Hier muss man ja zunächst einmal die betroffene Person auf das Problem ansprechen. Häufig führt das schon zu einer gewissen Entlastung, weil eine gemeinsame Sprache gefunden werden kann. Manchmal neigen Betroffene dazu, das Problem zu negieren oder zu bagatellisieren. Dann wird es schwieriger. Denn eine wirkliche Hilfestellung ist in der Regel nur sinnvoll möglich, wenn der oder die Betroffene eine gewisse Einsicht zeigt. Auch in diesen Fällen bietet unser Sorgentelefon eine Hilfe.
Verzeichnen Sie einen Anstieg an Patienten, die mit corona-bedingten Krankheitsbildern bei Ihnen ankommen?
MARGGRAF Menschen mit bereits vorhandenen psychischen Störungen sind häufig weniger belastbar und stressresistent als Gesunde, und bestimmte psychische Krankheiten gehen mit verminderter Frustrationstoleranz einher. Dazu kommt, dass die Versorgungs- und Betreuungsdichte für Menschen mit psychischen Handicaps durch corona-bedingte Einschränkungen geringer geworden ist. Teils werden von betroffenen Menschen vorhandene Hilfsangebote auch aufgrund von Ängsten vor Ansteckung weniger in Anspruch genommen als vor der Pandemie. Wir verzeichnen keine unmittelbar „corona-bedingten“Krankheitsbilder. Ob eine Zunahme von psychischen Erkrankungen aufgrund oder in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vorliegt, können wir nicht sicher sagen. Aber in der LVR-Klinik Viersen haben wir im Jahr 2020 vermehrt Gewalt und Zwang feststellen müssen. Nachdem wir über mehrere Jahre eine stetig sinkende Entwicklung konstatieren konnten, haben wir im Jahr 2020 erstmals wieder eine spürbare Zunahme erlebt.