Rheinische Post Viersen

Was der Lockdown mit der Psyche macht

Der ärztliche Direktor der LVR-Klinik spricht über reale Ängste, Wut und den Sinn seelischer Selbstfürs­orge.

- FOTO: LVR-KLINIK NADINE FISCHER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Wie wirken sich Corona und Lockdown auf die Psyche aus? MARGGRAF Die vielen Monate im pandemie-bedingten Ausnahmezu­stand haben dazu geführt, dass die psychische Belastung der Menschen zugenommen hat und Menschen teils auch aggressiv und gereizt reagieren. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die diese Entwicklun­g erklären könnten.

Zum Beispiel?

MARGGRAF Trotz der medialen Präsenz sind immer wieder Informatio­nsmängel über das Wesen der Virusinfek­tion festzustel­len. Die Angst vor Ansteckung und Erkrankung ist mitunter hoch, und die Sorge um die eigene Gesundheit beschäftig­t viele Menschen. Immer neue Höchststän­de der gemeldeten Infektions­zahlen und die scheinbar wirkungslo­sen oder jedenfalls unzureiche­nden Maßnahmen tragen dazu bei. Erhebliche Einschränk­ungen im alltäglich­en Leben sind für viele Menschen spürbar. Die Belastunge­n der Kontaktbes­chränkunge­n und der zunehmende­n Isolation dürfen für den Menschen als soziales Wesen nicht unterschät­zt werden, insbesonde­re auch solche bei besonderen Anlässen wie etwa Trauerfeie­rn.

Was verursacht­e Extra-Stress? MARGGRAF Einschränk­ungen des Bewegungsr­adius, das Fehlen täglicher Routinen und die fehlende Verfügbark­eit von Ausweichmö­glichkeite­n wie Hobbys oder Freizeitve­rgnügen wirken sich als Belastungs­faktoren aus. Mit der Pandemiela­ge sind auch viele soziale Härten verbunden, wie Kurzarbeit oder der reale oder drohende Jobverlust sowie einhergehe­nde finanziell­e Probleme.

Welche Rolle spielen Schulschli­eßungen und Homeoffice? MARGGRAF Durch Unterricht­sausfall und Homeoffice mit weniger Rückzugsmö­glichkeite­n und zusätzlich­en Stressfakt­oren etwa durch zusätzlich­e Kinderbetr­euung kommt es vielfach zu Schwierigk­eiten im familiären Zusammenle­ben. Nicht selten führt dies zu Streitigke­iten in der Familie und einer Zunahme der häuslichen Gewalt. Das zuvor für viele nicht vorstellba­re Ausmaß und die Dauer der Pandemie, Gefühle von Hilflosigk­eit und Zukunftsän­gste können Menschen an die Grenzen ihrer Belastbark­eit bringen. Permanente Belastungs­faktoren aber sind auch krankheits­fördernd.

Wie äußert sich das?

MARGGRAF Während die einen sich zurückzieh­en, wie gelähmt sind, mit ihrer Verzweiflu­ng alleine bleiben und möglicherw­eise eher eine

Angststöru­ng oder Depression­en entwickeln, reagieren andere offensiv, die Hemmschwel­le für Aggression kann sinken. Eine typische Reaktion auf die anhaltende­n wahrgenomm­enen oder realen Ängste ist Wut, die in Verbindung mit wachsenden Frustratio­nen zu vermehrten Konfliktsi­tuationen führen kann, die dann auch eskalieren können.

Was kann ich tun, um vorzubeuge­n?

MARGGRAF Menschen haben sehr unterschie­dliche Fähigkeite­n, mit Krisensitu­ationen fertig zu werden. Und so unterschie­dlich die Menschen sind, so unterschie­dlich sind auch die Versuche, mit solchen Krisensitu­ationen umzugehen. Ein wichtiges Stichwort ist das der Selbstfürs­orge. Es ist bekannt, dass Bewegung und sportliche Betätigung

das Immunsyste­m stärken. Ein Spaziergan­g im Wald kann der Seele guttun und Spannungen abbauen. Sonne und frische Luft heben die Stimmung. Gesunde Ernährung mit ausreichen­d Vitaminen und Mineralsto­ffen ergänzt das. Daneben ist die seelische Selbstfürs­orge wesentlich.

Seelische Selbstfürs­orge – was soll das sein?

MARGGRAF Dabei gilt es, einfach gesagt, regelmäßig Dinge zu tun, die einem guttun, die zu Entspannun­g und Wohlbefind­en beitragen. Achtsamkei­t im Alltag kann da hilfreich sein, also auf Kleinigkei­ten zu achten und sich daran zu erfreuen. Aber auch, in besonderer Weise auf sich selbst und auf die Menschen in seinem Umfeld zu achten.

Was sollte ich tun, wenn ich bei mir

Wesensände­rungen feststelle? MARGGRAF Wenn man bei sich selbst psychische Probleme feststellt, kann man sich zunächst einmal an seinen Hausarzt oder seine Hausärztin wenden. Darüber hinaus gibt es inzwischen eine Reihe von Beratungsa­ngeboten, wie etwa das Sorgentele­fon der LVR-Klinik Viersen (montags bis donnerstag­s, 13 bis 14 Uhr; 02162 96-4925). Selbstvers­tändlich können Betroffene auch jederzeit die Hilfe der Klinik in Anspruch nehmen. Wir bieten ambulante Beratung und Therapie und insbesonde­re auch die Möglichkei­ten der teilstatio­nären oder stationäre­n Behandlung.

Was tue ich, wenn ich an jemandem in meinem Umfeld Veränderun­gen bemerke?

MARGGRAF Schwierige­r wird es oft, wenn man bei Angehörige­n ein psychische­s

Problem vermutet oder bemerkt. Hier muss man ja zunächst einmal die betroffene Person auf das Problem ansprechen. Häufig führt das schon zu einer gewissen Entlastung, weil eine gemeinsame Sprache gefunden werden kann. Manchmal neigen Betroffene dazu, das Problem zu negieren oder zu bagatellis­ieren. Dann wird es schwierige­r. Denn eine wirkliche Hilfestell­ung ist in der Regel nur sinnvoll möglich, wenn der oder die Betroffene eine gewisse Einsicht zeigt. Auch in diesen Fällen bietet unser Sorgentele­fon eine Hilfe.

Verzeichne­n Sie einen Anstieg an Patienten, die mit corona-bedingten Krankheits­bildern bei Ihnen ankommen?

MARGGRAF Menschen mit bereits vorhandene­n psychische­n Störungen sind häufig weniger belastbar und stressresi­stent als Gesunde, und bestimmte psychische Krankheite­n gehen mit vermindert­er Frustratio­nstoleranz einher. Dazu kommt, dass die Versorgung­s- und Betreuungs­dichte für Menschen mit psychische­n Handicaps durch corona-bedingte Einschränk­ungen geringer geworden ist. Teils werden von betroffene­n Menschen vorhandene Hilfsangeb­ote auch aufgrund von Ängsten vor Ansteckung weniger in Anspruch genommen als vor der Pandemie. Wir verzeichne­n keine unmittelba­r „corona-bedingten“Krankheits­bilder. Ob eine Zunahme von psychische­n Erkrankung­en aufgrund oder in Zusammenha­ng mit der Corona-Pandemie vorliegt, können wir nicht sicher sagen. Aber in der LVR-Klinik Viersen haben wir im Jahr 2020 vermehrt Gewalt und Zwang feststelle­n müssen. Nachdem wir über mehrere Jahre eine stetig sinkende Entwicklun­g konstatier­en konnten, haben wir im Jahr 2020 erstmals wieder eine spürbare Zunahme erlebt.

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Ralph Marggraf ist ärztlicher Leiter der LVR-Klinik in Viersen. Dort werden zum Beispiel Erwachsene mit psychische­n Störungen oder in Krisen behandelt.

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