Jugend in der Krise kaum noch zu erreichen
Die Jugendeinrichtungen im Kreis Viersen sind geschlossen, Streetwork findet fast nur noch digital statt. Kontakte zu Jugendlichen gehen verloren. Hilfe, die dringend benötigt wird, wird während des Lockdowns auf später verschoben.
TÖNISVORST/WILLICH/GREFRATH Längst nicht alle Kinder und Jugendlichen kommen mit dem Corona-Lockdown gut zurecht. Besonders diejenigen sind hart getroffen, die dringend Hilfe benötigen. Was können Streetwork und Jugendeinrichtungen in leisten, wie können sie Kinder und Jugendliche unterstützen? Eines steht fest: Die Füße auf den Tisch legt niemand. Denn sie müssen um ihr Klientel kämpfen.
Streetworker kümmern sich um Jugendliche, die auf einer möglicherweise schiefen Bahn in Richtung Abgrund gleiten, die keinen festen Halt in der Familie spüren, den Umgang mit Drogen schon mal verniedlichen. Die Arbeit der Streetworker hat präventiven Charakter, sie behalten die Nerven, oft genug, bevor es zu spät ist. Jugend- und Freizeiteinrichtungen bieten weitere Hilfen an. Hier trifft sich der junge Mensch, hier greift er die vielfältigen Angebote auf.
Diplom-Heilpädagogin Petra Schippers vom Jugendfreizeitzentrum ( JFZ) in St. Tönis schränkt ein: „Unsere Tätigkeit ist kein Streetworking. Ins JFZ kamen vor der Pandemie täglich zwischen 60 und 70 Jugendliche.“Jetzt eben nicht mehr. Ob sie nach einer Lockerung, nach dem allgemeinen Aufatmen, wiederkommen, das ist die Frage, die sich Petra Schippers und ihre Kollegin, die Diplom-Sozialpädagogin Anette Wackers, permanent stellen.
Derzeit bieten die beiden einen Kontakt per Telefon, per E-Mail oder über die sozialen Netzwerke an. Früher nutzten die Jugendlichen den Fitnessraum und den Multifunktionsraum für Breakdance, Hip-Hop, Boxen, Tanzen; später gerade noch Billard und Kicker, als Abstand noch gewährleistet werden konnte. Jetzt vielleicht die Playstation – zu Hause, im schlimmsten Fall allein. Kontakte funktionieren nur über digitale Kanäle.
Und die jüngeren Kinder?„Unsere Kinder sind zwischen sieben und zehn Jahre alt. Die sind im Netz noch nicht so aktiv“, sagt Perihan Barulay, Leiterin des Kinder- und Jugendtreffs „Wohnzimmer“in Vorst. Auch hier ruhen die Workshops Kochen, Nähen oder Tanzen. Ungefähr 30
Kinder kommen im Normalfall pro Tag ins „Wohnzimmer“. „Ich glaube, unseren Kinder geht es zu Hause gut“, sagt Perihan Barulay, die mit einigen Eltern per E-Mail in Kontakt steht.
Einsamkeit macht krank. Während ältere Menschen oft nur den Blick auf den Wohnzimmerschrank haben, bleibt den Jugendlichen immerhin das Leben mit Eltern und Geschwistern – mit Halma und Playstation. Dennoch fehlt der Treff mit den Freunden. Studien zeigen, dass die jugendliche Psyche durch die Corona-Einschränkungen arg belastet wird. Depressionen und Angstzustände werden dreimal häufiger beobachtet, wenn Isolation und Einsamkeit die Oberhand gewinnen.
Thomas Gebel ist Teamkoordinator für soziale Dienste bei der Stadt Willich. „Derzeit sehr schwierig“, beurteilt er die aktuelle Arbeit mit den Jugendlichen. Wenn Streetwork von den Kontakt auf der Straße lebt, dann sei natürlich durch die „kontaktlose“Zeit einiges weggebrochen.
„Wer Hilfe braucht, der hat es jetzt noch schwerer“, sagt Thomas Gebel, „die persönlichen Kontakte mit den Streetworkern fallen weg, die Behörden sind meist geschlossen, Termine werden deshalb nicht zeitnah geplant.“Hilfe fehlt jetzt da, wo sie dringend nötig ist.
Den Jugendlichen und den Streetworkern bleibt nur der digitale Weg. Die sozialen Netzwerke werden zu Gesprächsplattformen, im günstigsten Fall dient das Telefon. Thomas Gebel hat beobachtet, dass während der ersten Lockdownphase die Nachfrage noch anstieg, jetzt aber deutlich reduziert sei. „Wir können diese Kanäle nur aktiv bewerben“, sagt er. Heißt: Sie sind weiterhin da. „Und wenn der Lockdown beendet ist, wird es sicherlich eine Weile dauern, bis unsere beiden Streetworker wieder mit allen in Kontakt kommen können“, vermutet er.
Die Angebote der Jugendsozialarbeit des Kreises Viersen in Präsenzform sind derzeit – wie in ganz NRW – nicht nutzbar. „Der Kontakt mit den Jugendlichen wird durch Telefonate oder Videokonferenzen ermöglicht“, sagte Anja Kühne, Sprecherin des Kreises Viersen.
Aber: Das Kreisjugendamt mit den Außenstellen des Allgemeinen Sozialen Dienstes in Grefrath und Tönisvorst ist während der Bürozeiten erreichbar. „Maßnahmen zur Sicherung des Kindeswohls werden wie gewohnt zeitnah bearbeitet“, teilte Anja Kühne mit.
Wer ein Herz aus Stein besitzt, könnte glauben, dass Streetworker in diesen Corona-geprägten Zeiten die Füße auf den Bürotisch legen und warten, bis die Pandemie vorbei ist. Dem ist nicht so: Arbeit an nachhaltigen Konzepten und die virtuellen Angebote im Internet oder anderen digitalen Plattformen bleiben genauso Arbeitsfelder wie die Betreuungsarbeit am Telefon.
Wer ein banges Herz besitzt, stellt eher die Frage, wie viele Kinder und Jugendliche in der notwendigerweise distanzierten Realität keine Hilfe garantiert bekommen. Erstens, weil sie selbst nicht danach fragen, zweitens, weil sie derzeit nicht gefunden werden, auch wenn man weiß, wo sie sind, und drittens, weil die Jugendeinrichtungen, die sie gern einmal besuchen, gerade geschlossen sind. Der digitale Weg ist nur ein schwacher Trost.