Wirtschaftswunderland Polen
Der Staat bricht trotz der Pandemie ökonomische Rekorde und vermeldet Vollbeschäftigung. Wie Deutschlands Nachbarn das gelingt.
WARSCHAU/BERLIN Polen leidet. Die dritte Corona-Welle hat das Land hart getroffen. Rund 35.000 Neuinfektionen am Tag waren zuletzt nationaler Negativrekord. Seit Anfang März verschärft die Regierung den Lockdown im Wochentakt. Es wirkt wie ein Wettlauf gegen die Sieben-Tage-Inzidenz, die soeben die 500er-Marke überschritten hat. Deutschland hat das Nachbarland zum Hochrisikogebiet erklärt. All das sind Fakten, wie gemacht für eine schwere Frühjahrsdepression in Wirtschaft und Handel. Das Gegenteil aber ist der Fall. Polen schreibt seine einzigartige postkommunistische Erfolgsgeschichte selbst in Pandemie-Zeiten fort, als wäre Corona ökonomisch gesehen nur ein kleiner Schnupfen.
Beispiel Jobwunder: Eine Arbeitslosenquote von 3,1 Prozent bedeutete im Januar faktisch Vollbeschäftigung.
Damit lag Polen unter den 37 hochentwickelten OECD-Staaten hinter Japan auf dem zweiten Platz. Beispiel Wachstum: Zwar ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Corona-Jahr 2020 erstmals seit der Weltfinanzkrise leicht zurück. Doch wie damals kam Polen, das sein BIP seit der Jahrtausendwende verdreifacht hat, unter den EU-Staaten mit am besten durch die Krise. Das Minus von 2,8 Prozent war nichts im Vergleich zu minus 8,3 Prozent in Frankreich. Die deutsche Wirtschaft schrumpfte um satte fünf Prozent. Und sie wäre ohne den andauernden Boom im Handel mit Ostmitteleuropa deutlich stärker eingebrochen.
„Polen war und ist ein wesentlicher Stabilisator für die deutsche Wirtschaft in der Corona-Krise“, sagt Lars Gutheil, der die deutsche Außenhandelskammer (AHK) in Warschau leitet. Er kann dabei auf die aktuellen Zahlen verweisen, die manchen Ost-Skeptiker im Westen noch immer verblüffen dürften. So exportierte Polen 2020 trotz Pandemie so viele Güter und Dienstleistungen nach Deutschland wie nie zuvor. Mit einem Volumen von 58,1 Milliarden Euro übertrafen die Ausfuhren den Rekord des Vorjahres noch einmal um ein Prozent. Damit stieg das Wirtschaftswunderland zum weltweit viertstärksten Lieferanten Deutschlands auf und stach erstmals Frankreich aus. Nur die Giganten China und USA sowie die Niederlande mit ihrer starken Öl- und Gasindustrie waren besser.
In umgekehrter Richtung läuft es ebenfalls rund. Die deutschen Ausfuhren nach Polen sanken zwar leicht um 1,8 Prozent. Aber auch hier gilt, frei nach einem bekannten Filmtitel: „Forget Paris!“Der Vergleich mit Frankreich, wo der Absatz deutscher Produkte im zweistelligen Bereich einbrach, belegt die enorme Kraft der osteuropäischen Boomregion.
Der Ost-Boom verleitete den Warschauer Weltbank-Ökonomen Marcin Piatkowski kürzlich zu der Aussage, Polen sei „der Robert Lewandowski der Weltwirtschaft“. Immer auf Rekordkurs, ganz wie im Fußball der polnische Torjäger des FC Bayern. Aber Piatkowski ging noch weiter. Der Osten der EU habe mit seiner „überragenden Konkurrenzfähigkeit die historische Chance, den Westen wirtschaftlich einzuholen“. Doch was genau macht vor allem die Wachstumslokomotive Polen so schlagkräftig, dass sie den Wettbewerb selbst mit den globalen Giganten nicht zu scheuen braucht? AHK-Leiter Gutheil verweist darauf, dass „Polens Wirtschaft mittlerweile sehr stark diversifiziert ist“. Das habe sich in der Pandemie ausgezahlt.
Tatsächlich ist Polen exportstarkes Agrarland und Industriestandort zugleich. Das Land punktet aber auch mit vielen erfolgreichen kleinen und mittleren Unternehmen. Insbesondere im Handwerk, denn gebaut wird in Polen seit Jahren wie in kaum einer anderen Region Europas. Entscheidend dazu beigetragen haben die milliardenschweren Förderungen aus EU-Töpfen, die Polen so effektiv nutzt wie kein zweites Mitgliedsland. Das wiederum hat einen Modernisierungsschub bei der Infrastruktur ausgelöst, die den Boom beim Warentransport erst möglich machte.
Nicht dabei ist Polen allerdings beim Euro. Aber auch das war in schlechten Zeiten eher von Vorteil. Sowohl in der Weltfinanzkrise als auch in der Pandemie verbilligte sich der Zloty deutlich gegenüber dem Euro und machte so die eigenen Exporte um bis zu zehn Prozent günstiger. Zum Beispiel im Vergleich zu Frankreich. Mit Blick auf die Zukunft wird der wirtschaftliche Erfolg aber eher von anderen Faktoren abhängen. Auch von der politischen Entwicklung. Seit in Warschau die nationalkonservative PiS regiert, liegt Polen im Dauerstreit mit der EU um Rechtsstaatlichkeit und liberale Werte. Weltbanker Piatkowski ist überzeugt: „Wer in Europa ökonomisch dauerhaft erfolgreich sein will, braucht starke demokratische Institutionen.“