Lockdown und Hygieneregeln stoppen auch Erreger anderer meldepflichtiger Krankheiten. Das belegen neue Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Dafür bleiben aber wichtige Vorsorgeuntersuchungen aus.
Menschen auf der ganzen Welt gehen seit nunmehr über einem Jahr auf Distanz. Hygienekonzepte, Lockdown und Abstandsregeln sind Teil unseres Alltags geworden. Am Kleiderhaken und dem Autospiegel hängen heute Masken statt Jacken oder Glücksbringer. In den Nachrichten gibt es kaum ein anderes Thema. Covid-19 ist einfach überall.
Die Pandemie verzerrt die Wahrnehmung und verschiebt manch anderes Problem. Auch andere Krankheiten hat sie in den Hintergrund gedrängt – in den Köpfen, aber auch im realen Leben. Einen positiven Nebeneffekt der Pandemie belegen aktuelle Erhebungen des Robert-Koch-Instituts (RKI): Durch die Aha-Regeln – sprich: Abstand, Hygiene und Alltagsmaske – haben auch andere Viren keine Chance, die sonst zu dieser Jahreszeit grassieren.
Der Fachbereich Surveillance am RKI hat nun die Ergebnisse einer Analyse zur Entwicklung meldepflichtiger Infektionskrankheiten vorgestellt. Sie soll bei der Bewertung möglicher Pandemieeffekte eine Rolle spielen. Neben Grippe und Erkältungskrankheiten berücksichtigten die Experten auch das Auftreten von Erregern typischer Magen-Darm-Infektionskrankheiten wie Salmonellen und Noroviren, dazu die Häufigkeit von Tuberkulose oder Hepatitis.
Das Ergebnis: Bei fast allen Krankheiten war ein Rückgang im Jahr 2020 zu verzeichnen. Eindeutig haben nach Einschätzung der RKI-Fachleute Maßnahmen wie Schul- und Kita-Schließungen, Homeoffice und die Abstands- und Kontaktregeln die Übertragung solcher Erreger massiv verhindert.
Dies belegen auch die Zahlen: Knapp 140.000 Fälle relevanter meldepflichtiger Krankheiten wurden demnach zwischen März und Anfang August 2020 nebst Covid-19 gemeldet. Nach Herausrechnen jährlicher Schwankungen und Trends entspreche das einem Rückgang von 35 Prozent gegenüber dem erwarteten Wert, den man anhand der Vorjahre ( Januar 2016 bis Februar 2020) berechnet hatte, so das RKI.
Vor allem Atemwegs- und Magen-Darm-Erkrankungen gingen im untersuchten Zeitraum massiv zurück. Das von allen Eltern kleiner Kinder besonders gefürchtete Norovirus kam ebenfalls kaum zum Zuge. Es ist hochansteckend und verursacht massive Durchfälle. Nicht selten machen Norovirus-Infektionen sogar einen Krankenhausaufenthalt erforderlich, weil besonders kleine Kinder sehr schnell dehydrieren und den massiven Flüssigkeitsverlust nicht ohne Weiteres ausgleichen können.
Andere typische Kinderkrankheiten wie Windpocken oder Keuchhusten gingen ebenfalls messbar zurück. Und auch die einschneidenden, weltweiten Reiseverbote zeigten ihre Wirkung: Tropenkrankheiten wie Malaria und Denguefieber wurden deutlich seltener registriert.
Der Effekt der Aha-Regeln hat sich bereits im vergangenen Frühjahr angedeutet: Schon die Grippesaison 2019/2020 hatte Sars-CoV-2 ausgebremst: Das Robert-Koch-Institut verkündete das Ende der Grippewelle 2020 rund zwei Wochen früher als in vorangegangenen Jahren. Schon damals zeigte sich also deutlich ein Effekt der neu eingeführten Hygienemaßnahmen. Viren, die ähnliche Übertragungswege haben wie Sars-CoV-2, werden ähnlich ausgebremst. Influenzaviren verbreiten sich ebenfalls durch Tröpfcheninfektion, daher schützen Maske und Abstand auch gegen diese Erreger. Das Robert-Koch-Institut in Berlin geht auch für die laufende Grippesaison von „einer Zirkulation von Influenzaviren auf einem extrem niedrigen Niveau“aus.
Ein Effekt der Maßnahmen zur Pandemie ist also deutlich zu belegen. Dennoch betonen die Epidemiologen des RKI, das Sinken der Zahlen habe verschiedene Gründe. Es sei von mehreren Faktoren abhängig und vor allem erregerspezifisch. Allein mit Datenanalyse lasse sich die Abnahme der Fallzahlen nicht erklären. Unter anderem könnten auch die teilweise überlasteten Behörden die Datenlage verzerren.
Auch ein geändertes Bewusstsein in der Bevölkerung könnte eine Rolle spielen. So haben sich etwa im vergangenen Jahr viel mehr Menschen
gegen Grippe und Pneumokokken impfen lassen als in den Vorjahren. Das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung verzeichnete in den ersten drei Quartalen 2020 3,5 Millionen mehr verabreichte Pneumokokken- und Influenza-Impfungen als im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor. Das entspricht einer Zunahme um 165 Prozent.
Aber es gibt auch eine Kehrseite des positiven Pandemie-Effekts: Denn andere Untersuchungen bleiben seit geraumer Zeit auf der Strecke. Viele Kranke meiden den Weg zum Arzt aus Angst vor einer Ansteckung im Wartezimmer. Nicht jeder Infektionsfall erreicht derzeit tatsächlich das zentrale Melderegister. Mehrere Krankenkassen meldeten jedenfalls deutlich weniger Krankschreibungen. Und nicht ohne Grund mahnen Mediziner, routinemäßige Vorsorgeuntersuchungen während der Pandemie nicht zu verschieben.
Eklatante Einbrüche gibt es nach Angabe des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung etwa beim Hautkrebs-Screening und der Mammografie, also der Brustkrebsvorsorge. Um bis zu 97 Prozent seien die Zahlen während der ersten Corona-Welle von März bis Mai 2020 eingebrochen. Auch ambulante Operationen und Ultraschalluntersuchungen wurden laut Zentralinstitut deutlich seltener durchgeführt. Zwar normalisierten sich seit dem vergangenen Herbst die Fallzahlen ein Stück weit. Aber besonders beim Hautkrebs-Screening sei bisher längst nicht das alte Niveau erreicht.
Eine Krankheit verzeichnet übrigens ungeachtet aller Abstandsregeln eine steigende Tendenz: Der Drang ins Grüne macht sich in höheren Fallzahlen der Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) bemerkbar. Diese Krankheit wird von Zecken übertragen. Und die fühlen sich nach dem trockenen und warmen Sommer und einem eher milden Winter in diesem Jahr besonders wohl. Leider helfen gegen Zecken keine Aha-Regeln, sondern nur lange Kleidung und gründliches Absuchen.