Corona als Alibi
Einiges, was im Alltag der Pandemie zugeschrieben wird, mutet merkwürdig an.
Warum fragen Sie?“, entrüstet sich die Empfangsdame an der Rezeption im Ostsee-Hotel: „Natürlich reinigen wir die Zimmer im Hotel nicht mehr täglich. Das reduziert das Corona-Risiko.“Aha. Man kommt gerade aus dem großen Frühstückssaal, in dem sich eine große Hochzeitsgesellschaft am Morgen danach mit lauten Grüßen und vielen Umarmungen verabschiedet, sodass alle Anwesenden etwas davon haben. Ohne Masken, versteht sich, man hat ja gerade erst das Frühstücksei vertilgt. Aber die Zimmer werden nur noch auf Nachfrage gereinigt – wegen Corona. Wirklich?
Anruf in einem Berliner Bürgeramt, nachdem man bereits zweimal vor verschlossener Tür stand. Aufgrund von Corona habe man vor einem Jahr
KERSTIN MÜNSTERMANN die Öffnungszeiten reduziert. Die Mitarbeiter arbeiteten überwiegend im Homeoffice. Das versteht man. Aber warum ist es nicht möglich, einen gestellten Antrag innerhalb von drei Monaten zu bearbeiten? Die Mitarbeiter im Homeoffice hätten keinen Zugang zu den Akten, das hätten nur die Mitarbeiter vor Ort, kommt als Antwort. Und das seien nur noch wenige. Auf die Frage, ob auf diesem Wege überhaupt noch irgendetwas an Bürgerarbeit und Bürokratie möglich sei, erntet man: böse Blicke.
Anruf im Ministerium, komplizierter Sachverhalt. Man solle die Sache mal schildern. „Und können Sie das jetzt alles noch mal schriftlich einreichen?“Die zuständigen Referenten seien alle nicht vor Ort, man könne nur noch E-Mail-Anfragen beantworten. Warum
geht dann eigentlich noch jemand ans Telefon?
Anruf im Bundespresseamt. Die Kanzlerin wird nach Washington reisen. Werden Journalisten in der Delegation mitfliegen können, um den Abschied von der Weltbühne aus nächster Nähe zu erleben, Zwischentöne aufzufangen – wie es vor Corona üblich war? Nein, man müsse schon verstehen, die Corona-Gefahr sei ja immer noch gegeben, auch bei doppelt Geimpften.
Man wird das Gefühl nicht los, dass Corona immer mehr zum Alibi wird.
Unsere Autorin ist Leiterin des Berliner Parlamentsbüros. Sie wechselt sich hier mit ihrem Stellvertreter Jan Drebes und Elisabeth Niejahr, der Geschäftsführerin der Hertie-Stiftung, ab.