Heikles Herz
Kardiologen verstehen immer besser, wie es zu einem Infarkt kommt und wie sie ihn behandeln müssen. Auch die Methoden der Früherkennung werden immer raffinierter. Der einzige Unsicherheitsfaktor ist der Mensch.
Früher war die Angelegenheit sonnenklar, diskutiert wurde sowieso nicht. Die Patienten kamen entweder per Rettungswagen, oder sie waren kein Notfall, wurden aber vom Kardiologen großzügig einbestellt und auf den Tisch gelegt. Und dann schaute man rein – per Herzkatheter, einem filigranen, doch nicht dem kompliziertesten Manöver in der modernen Medizin. Und sah der Kardiologe dann in einem der drei Herzkranzgefäße eine Verengung durch Ablagerungen (die Fachleute nennen das Plaque), dann wurde ein Stent reingeballert. Das schien medizinisch klug und war ökonomisch lange lukrativ.
Diese Zeiten sind vorbei. Das große Geld bringen Stents längst nicht mehr. Zudem muss eine Katheteruntersuchung heutzutage viel stärker begründet sein, denn sie ist – ungefährlich hin oder her – ein invasiver Eingriff. Dagegen bieten neue Verfahren mit Herz-CT oder -MRT oft ebenfalls eine präzise Übersicht über Veränderungen im Herzen. Als Alternative: Mit einer nuklearmedizinischen Methode, der Szintigrafie, oder auch der Stressechokardiografie kann man nachschauen, ob der Herzmuskel wirklich minderdurchblutet ist. Und wenn einem dann eine Engstelle begegnet, ist mittlerweile lange nicht ausgemacht, ob sie wirklich aufgedehnt werden muss. Womöglich ist der Blutfluss kaum eingeschränkt, und man tut gut daran, die angebliche heikle Stelle in Ruhe zu lassen.
Zu all diesen Fragen gab es nun die Veranstaltung „Koronare Herzkrankheit – ein Update“in der Düsseldorfer NRW-Akademie der Wissenschaften, die von dem Essener Physiologen und Kreislaufforscher Gerd Heusch eingeleitet wurde. Er skizzierte vorab die enorme Energieleistung des Herzens, das knapp 600 Liter Blut pro Stunde pumpt. Für diese sportliche Ausdauerleistung sind, wenn sie lebenslang anhalten soll, gesunde Herzkranzgefäße (Koronarien) vonnöten, damit sie genügend Nährstoffe an den Herzmuskel abgeben.
Wenn es dabei im Lauf des Lebens zu Problemen kommt, habe das, so Heusch, häufig mit Atherosklerose zu tun (das ist die fachlich korrektere Version von Arteriosklerose). Hierbei haben sich nicht nur Fette an der Gefäßwand abgelagert, es ergeben sich dort auch entzündliche Prozesse. Die betreffen zwar alle Gefäße im Körper, nicht nur im Herzen. In der Pumpe merkt man allerdings irgendwann, dass etwas nicht stimmt. Atherosklerose kann sich langsam entwickeln, dann hat man irgendwann von Zeit zu Zeit Luftnot, auch unter Belastung etwa beim Treppensteigen, oder ein Gefühl von Enge in der Brust. Das nennt man Angina pectoris. Doch können die Ablagerungen auch jäh aufreißen (Plaque-Ruptur genannt), ein Ereignis, das oft unmittelbar zum Herzinfarkt, zum Schlaganfall oder zum plötzlichen Herztod führt.
Der Riss löst nämlich eine Gerinnungsreaktion an Ort und Stelle aus, die das Gefäß wie bei einer Embolie mehr oder weniger verschließt. Die Unterscheidung zwischen der eher langsam-chronischen und der akut-gefährlichen Form ist extrem wichtig. Noch immer, mahnte Heusch, sei der Herztod die weltweite häufigste Todesursache, und es wäre gut, vorher zu wissen, ob man ein Risikopatient ist.
Der Kardiologe Christian Weber aus München wies darauf hin, dass diese entzündlichen Aspekte immer stärker in den Fokus rücken. Man müsse davon abkommen, sich nur auf die Blutfette als Feinde des Herzens zu stürzen. Weber verwies auf neue medikamentöse Möglichkeiten, diese entzündliche Komponente in den Griff zu bekommen. Er nannte zum Beispiel Colchicin, das in den USA kürzlich in schwacher Dosierung zur prophylaktischen Behandlung von Menschen zugelassen wurde, die bereits einen Herzinfarkt erlitten haben. Colchicin ist ein Zellgift und wirkt vor allem auf eine Untergruppe der weißen Blutkörperchen, die neutrophilen Granulozyten. Harmlos ist es keineswegs und kann auch Nebenwirkungen haben, vor allem im MagenDarm-Trakt. Wer unter einer chronischen Nieren- und Lebererkrankung leidet, der sollte seine Blutwerte regelmäßig kontrollieren lassen. Überdies kann sich Colchicin mit manchen Herz-Kreislaufmitteln nicht gut vertragen, etwa Statinen, Medikamenten für einen stabilen Herzrhythmus und auch Beta-Blockern.
Viel besser wäre es, wenn es gar nicht so weit kommt. Der Kardiologe Dietrich Baumgart wies vehement auf den Aspekt der Vorbeugung hin. Früherkennung rettet Leben – dies gilt in anderen Körperregionen seit vielen Jahren (etwa zur Vorbeugung von Darm-, Brust- und Hautkrebs). Nur mit dem Herzen nehmen es viele Leute nicht so genau. Dabei sind die Anforderungen keineswegs unmenschlich hoch: nicht mehr rauchen, das Gewicht kontrollieren, ausreichend Bewegung, gesunde Ernährung, mehr gesunden Schlaf, weniger Stress. Baumgart: „Die Leute kennen die Benzinpreise an der Tankstelle, aber nicht ihre Blutdruck- oder ihre Cholesterinwerte.“
Die Entwicklung von Plaque-Ablagerungen, die entweder weich bleiben oder durch Verkalkung hart werden, ist naturgemäß keine Sache von Tagen, sondern von Jahrzehnten. Schon bei 30- oder 40-Jährigen könne man bei entsprechendem Risikoprofil kleine Ablagerungen sehen, die sich – treten die
Betroffenen nicht auf die Bremse – immer weiter vergrößern können. Ein Schaubild ließ manchen jüngeren Besucher erstarren: Sieht es in mir vielleicht auch so aus? Sichere Auskunft über seinen Gefäßstatus könnte er übrigens von unerwarteter Seite bekommen: von seinem Augenarzt. Der sieht beim Blick auf den Augenhintergrund alle Gefäße in perfekter Anmutung. Nicht grundlos spricht man in der Präventivmedizin von „Talking Eyes“.
Tief in die Glaskugel schaute Tienush Rassaf (Essen) und fand dort allerdings sehr konkrete Hinweise: „Herzmedizin 3.0 – mit KI in die Zukunft“hieß sein Vortrag. Diese Zukunft wird für Kardiologen eine gewaltige Herausforderung, weil es immer mehr ältere Hochrisiko-Patienten gibt. Das sind nicht selten übergewichtige Menschen mit eingeschränkter Nierenfunktion, Verengungen in den Gefäßen, schlecht eingestellter Zuckerkrankheit und Bluthochdruck. Im Herz zeigen sich Probleme dadurch, dass es nicht mehr so gut pumpt oder häufig aus dem Takt gerät.
Was die Rhythmusstörungen betrifft, kann künstliche Intelligenz, die per EinKanal-EKG in einer Smartwatch angesteuert wird, beispielsweise Vorhofflimmern in vielen Fällen schon sehr genau erkennen. Das ist wichtig gerade für Menschen, die es gar nicht bemerken – man nennt sie die sogenannten asymptomatischen Flimmerer. Künftig könnte es sogar möglich sein, dass KI die Pumpfunktion des Herzens analysiert, indem sie aus dem EKG sehr spezielle Rückschlüsse zieht.*
Lässt sich auch auf anderem Wege die Diagnose bestätigen, dass jemand einen Herzinfarkt hat? In vielen Rettungswagen gibt es zwar mittlerweile ein Zwölf-Kanal-EKG, das per Funk an eine Klinik übermittelt werden kann. Aber auch gewisse Blutwerte sind aussagekräftig, einer heißt Troponin. Das ist ein Eiweiß in den Zellen des Herzmuskels. Wird der etwa im Verlauf des akuten Koronarsyndroms geschädigt, treten diese Eiweißstoffe vermehrt ins Blut über und können über einen Test bestimmt werden.
Künftig wird aber möglicherweise kein Pieks mehr nötig sein. Neulich zeigte eine Pilotstudie, dass eine ziemlich akkurate Troponin-Bestimmung in wenigen Minuten möglich ist – durch eine Messung über die Haut. Wie soll das gehen? Ein Sensor kann am Handgelenk Troponin im Blut durch die Haut mittels Infrarotlicht erkennen und die Signale per Bluetooth an ein cloud-basiertes System senden, das die Daten verarbeitet. Es verwendet einen auf maschinelles Lernen geeichten Algorithmus, um den TroponinWert des Patienten vorherzusagen. Die Messung ist zu 90 Prozent genau; eine indische Studie mit 239 Patienten hat die Werte bestätigt. Der Vorteil ist vor allem die zeitliche Beschleunigung bei unklaren Situationen, denn nicht immer ist ja ein angeblicher Herzinfarkt auch einer. Andererseits sieht man nicht jeden Infarkt im EKG.
Ein weiterer Trick aus dem Baukasten der KI könnte die Gesichtserkennung sein: Wittert KI womöglich auch eine Herzkrankheit? Morgens ein Foto von sich selbst mit dem Smartphone gemacht und per App analysiert: Steht jemandem der Stress oder die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben? Ist die Gesichtsfarbe stark gerötet, was auf Bluthochdruck hinweisen könnte? „Facial Recognition“– so nennt man das Verfahren – halten die einen für störanfällige Spielerei; vielleicht schaut ja jemand deshalb gequält in die Kamera, weil er sich vor dem KI-Befund fürchtet? Andere sehen darin eine Option für die Zukunft. Wir werden sehen, ob wir morgens künftig einmal ins Smartphone gucken sollen.
Holger Thiele (Leipzig) wies darauf hin, dass der Fortschritt der Kardiologie mit der Automobilbranche vergleichbar sei: „Die Werkstätten werden immer besser. Aber es wäre gut, wenn viele Autos gar nicht erst zu großen Reparaturen in die Werkstatt müssten.“Regelmäßige Inspektion, das weiß die mobile Gesellschaft, ist viel besser. Die Eröffnung eines verschlossenen Gefäßes ist ja auch nicht ganz ohne. Strömt das Blut danach sturzbachartig in das Infarktgebiet, kann es sogar gefährlich werden – weil ein sogenannter Reperfusionsschaden droht. Neue Erkenntnisse zeigen, dass eine kontrollierte Öffnung im Sinne einer „ischämischen Konditionierung“die Aussichten der Patienten entscheidend verbessern kann.
Ein Mann im Auditorium, von den Bildern beeindruckt, wollte es genau wissen. Er habe vor einigen Jahren einige Bypässe bekommen. Sollte man jetzt nicht noch einmal mit dem Herzkatheter reinschauen? Holger Thiele schüttelte den Kopf: „Wenn Sie keine Beschwerden haben, ganz sicher nicht.“Der Mann schien erleichtert. Früher hätten ihn viele Kardiologen bedenkenlos wieder auf den Tisch gelegt.
Ablagerungen in den Gefäßen können überall im Körper Probleme hervorrufen und auch Schlaganfälle auslösen