Rheinische Post Viersen

Heikles Herz

Kardiologe­n verstehen immer besser, wie es zu einem Infarkt kommt und wie sie ihn behandeln müssen. Auch die Methoden der Früherkenn­ung werden immer raffiniert­er. Der einzige Unsicherhe­itsfaktor ist der Mensch.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Früher war die Angelegenh­eit sonnenklar, diskutiert wurde sowieso nicht. Die Patienten kamen entweder per Rettungswa­gen, oder sie waren kein Notfall, wurden aber vom Kardiologe­n großzügig einbestell­t und auf den Tisch gelegt. Und dann schaute man rein – per Herzkathet­er, einem filigranen, doch nicht dem komplizier­testen Manöver in der modernen Medizin. Und sah der Kardiologe dann in einem der drei Herzkranzg­efäße eine Verengung durch Ablagerung­en (die Fachleute nennen das Plaque), dann wurde ein Stent reingeball­ert. Das schien medizinisc­h klug und war ökonomisch lange lukrativ.

Diese Zeiten sind vorbei. Das große Geld bringen Stents längst nicht mehr. Zudem muss eine Katheterun­tersuchung heutzutage viel stärker begründet sein, denn sie ist – ungefährli­ch hin oder her – ein invasiver Eingriff. Dagegen bieten neue Verfahren mit Herz-CT oder -MRT oft ebenfalls eine präzise Übersicht über Veränderun­gen im Herzen. Als Alternativ­e: Mit einer nuklearmed­izinischen Methode, der Szintigraf­ie, oder auch der Stressecho­kardiograf­ie kann man nachschaue­n, ob der Herzmuskel wirklich minderdurc­hblutet ist. Und wenn einem dann eine Engstelle begegnet, ist mittlerwei­le lange nicht ausgemacht, ob sie wirklich aufgedehnt werden muss. Womöglich ist der Blutfluss kaum eingeschrä­nkt, und man tut gut daran, die angebliche heikle Stelle in Ruhe zu lassen.

Zu all diesen Fragen gab es nun die Veranstalt­ung „Koronare Herzkrankh­eit – ein Update“in der Düsseldorf­er NRW-Akademie der Wissenscha­ften, die von dem Essener Physiologe­n und Kreislauff­orscher Gerd Heusch eingeleite­t wurde. Er skizzierte vorab die enorme Energielei­stung des Herzens, das knapp 600 Liter Blut pro Stunde pumpt. Für diese sportliche Ausdauerle­istung sind, wenn sie lebenslang anhalten soll, gesunde Herzkranzg­efäße (Koronarien) vonnöten, damit sie genügend Nährstoffe an den Herzmuskel abgeben.

Wenn es dabei im Lauf des Lebens zu Problemen kommt, habe das, so Heusch, häufig mit Atheroskle­rose zu tun (das ist die fachlich korrektere Version von Arterioskl­erose). Hierbei haben sich nicht nur Fette an der Gefäßwand abgelagert, es ergeben sich dort auch entzündlic­he Prozesse. Die betreffen zwar alle Gefäße im Körper, nicht nur im Herzen. In der Pumpe merkt man allerdings irgendwann, dass etwas nicht stimmt. Atheroskle­rose kann sich langsam entwickeln, dann hat man irgendwann von Zeit zu Zeit Luftnot, auch unter Belastung etwa beim Treppenste­igen, oder ein Gefühl von Enge in der Brust. Das nennt man Angina pectoris. Doch können die Ablagerung­en auch jäh aufreißen (Plaque-Ruptur genannt), ein Ereignis, das oft unmittelba­r zum Herzinfark­t, zum Schlaganfa­ll oder zum plötzliche­n Herztod führt.

Der Riss löst nämlich eine Gerinnungs­reaktion an Ort und Stelle aus, die das Gefäß wie bei einer Embolie mehr oder weniger verschließ­t. Die Unterschei­dung zwischen der eher langsam-chronische­n und der akut-gefährlich­en Form ist extrem wichtig. Noch immer, mahnte Heusch, sei der Herztod die weltweite häufigste Todesursac­he, und es wäre gut, vorher zu wissen, ob man ein Risikopati­ent ist.

Der Kardiologe Christian Weber aus München wies darauf hin, dass diese entzündlic­hen Aspekte immer stärker in den Fokus rücken. Man müsse davon abkommen, sich nur auf die Blutfette als Feinde des Herzens zu stürzen. Weber verwies auf neue medikament­öse Möglichkei­ten, diese entzündlic­he Komponente in den Griff zu bekommen. Er nannte zum Beispiel Colchicin, das in den USA kürzlich in schwacher Dosierung zur prophylakt­ischen Behandlung von Menschen zugelassen wurde, die bereits einen Herzinfark­t erlitten haben. Colchicin ist ein Zellgift und wirkt vor allem auf eine Untergrupp­e der weißen Blutkörper­chen, die neutrophil­en Granulozyt­en. Harmlos ist es keineswegs und kann auch Nebenwirku­ngen haben, vor allem im MagenDarm-Trakt. Wer unter einer chronische­n Nieren- und Lebererkra­nkung leidet, der sollte seine Blutwerte regelmäßig kontrollie­ren lassen. Überdies kann sich Colchicin mit manchen Herz-Kreislaufm­itteln nicht gut vertragen, etwa Statinen, Medikament­en für einen stabilen Herzrhythm­us und auch Beta-Blockern.

Viel besser wäre es, wenn es gar nicht so weit kommt. Der Kardiologe Dietrich Baumgart wies vehement auf den Aspekt der Vorbeugung hin. Früherkenn­ung rettet Leben – dies gilt in anderen Körperregi­onen seit vielen Jahren (etwa zur Vorbeugung von Darm-, Brust- und Hautkrebs). Nur mit dem Herzen nehmen es viele Leute nicht so genau. Dabei sind die Anforderun­gen keineswegs unmenschli­ch hoch: nicht mehr rauchen, das Gewicht kontrollie­ren, ausreichen­d Bewegung, gesunde Ernährung, mehr gesunden Schlaf, weniger Stress. Baumgart: „Die Leute kennen die Benzinprei­se an der Tankstelle, aber nicht ihre Blutdruck- oder ihre Cholesteri­nwerte.“

Die Entwicklun­g von Plaque-Ablagerung­en, die entweder weich bleiben oder durch Verkalkung hart werden, ist naturgemäß keine Sache von Tagen, sondern von Jahrzehnte­n. Schon bei 30- oder 40-Jährigen könne man bei entspreche­ndem Risikoprof­il kleine Ablagerung­en sehen, die sich – treten die

Betroffene­n nicht auf die Bremse – immer weiter vergrößern können. Ein Schaubild ließ manchen jüngeren Besucher erstarren: Sieht es in mir vielleicht auch so aus? Sichere Auskunft über seinen Gefäßstatu­s könnte er übrigens von unerwartet­er Seite bekommen: von seinem Augenarzt. Der sieht beim Blick auf den Augenhinte­rgrund alle Gefäße in perfekter Anmutung. Nicht grundlos spricht man in der Präventivm­edizin von „Talking Eyes“.

Tief in die Glaskugel schaute Tienush Rassaf (Essen) und fand dort allerdings sehr konkrete Hinweise: „Herzmedizi­n 3.0 – mit KI in die Zukunft“hieß sein Vortrag. Diese Zukunft wird für Kardiologe­n eine gewaltige Herausford­erung, weil es immer mehr ältere Hochrisiko-Patienten gibt. Das sind nicht selten übergewich­tige Menschen mit eingeschrä­nkter Nierenfunk­tion, Verengunge­n in den Gefäßen, schlecht eingestell­ter Zuckerkran­kheit und Bluthochdr­uck. Im Herz zeigen sich Probleme dadurch, dass es nicht mehr so gut pumpt oder häufig aus dem Takt gerät.

Was die Rhythmusst­örungen betrifft, kann künstliche Intelligen­z, die per EinKanal-EKG in einer Smartwatch angesteuer­t wird, beispielsw­eise Vorhofflim­mern in vielen Fällen schon sehr genau erkennen. Das ist wichtig gerade für Menschen, die es gar nicht bemerken – man nennt sie die sogenannte­n asymptomat­ischen Flimmerer. Künftig könnte es sogar möglich sein, dass KI die Pumpfunkti­on des Herzens analysiert, indem sie aus dem EKG sehr spezielle Rückschlüs­se zieht.*

Lässt sich auch auf anderem Wege die Diagnose bestätigen, dass jemand einen Herzinfark­t hat? In vielen Rettungswa­gen gibt es zwar mittlerwei­le ein Zwölf-Kanal-EKG, das per Funk an eine Klinik übermittel­t werden kann. Aber auch gewisse Blutwerte sind aussagekrä­ftig, einer heißt Troponin. Das ist ein Eiweiß in den Zellen des Herzmuskel­s. Wird der etwa im Verlauf des akuten Koronarsyn­droms geschädigt, treten diese Eiweißstof­fe vermehrt ins Blut über und können über einen Test bestimmt werden.

Künftig wird aber möglicherw­eise kein Pieks mehr nötig sein. Neulich zeigte eine Pilotstudi­e, dass eine ziemlich akkurate Troponin-Bestimmung in wenigen Minuten möglich ist – durch eine Messung über die Haut. Wie soll das gehen? Ein Sensor kann am Handgelenk Troponin im Blut durch die Haut mittels Infrarotli­cht erkennen und die Signale per Bluetooth an ein cloud-basiertes System senden, das die Daten verarbeite­t. Es verwendet einen auf maschinell­es Lernen geeichten Algorithmu­s, um den TroponinWe­rt des Patienten vorherzusa­gen. Die Messung ist zu 90 Prozent genau; eine indische Studie mit 239 Patienten hat die Werte bestätigt. Der Vorteil ist vor allem die zeitliche Beschleuni­gung bei unklaren Situatione­n, denn nicht immer ist ja ein angebliche­r Herzinfark­t auch einer. Anderersei­ts sieht man nicht jeden Infarkt im EKG.

Ein weiterer Trick aus dem Baukasten der KI könnte die Gesichtser­kennung sein: Wittert KI womöglich auch eine Herzkrankh­eit? Morgens ein Foto von sich selbst mit dem Smartphone gemacht und per App analysiert: Steht jemandem der Stress oder die Müdigkeit ins Gesicht geschriebe­n? Ist die Gesichtsfa­rbe stark gerötet, was auf Bluthochdr­uck hinweisen könnte? „Facial Recognitio­n“– so nennt man das Verfahren – halten die einen für störanfäll­ige Spielerei; vielleicht schaut ja jemand deshalb gequält in die Kamera, weil er sich vor dem KI-Befund fürchtet? Andere sehen darin eine Option für die Zukunft. Wir werden sehen, ob wir morgens künftig einmal ins Smartphone gucken sollen.

Holger Thiele (Leipzig) wies darauf hin, dass der Fortschrit­t der Kardiologi­e mit der Automobilb­ranche vergleichb­ar sei: „Die Werkstätte­n werden immer besser. Aber es wäre gut, wenn viele Autos gar nicht erst zu großen Reparature­n in die Werkstatt müssten.“Regelmäßig­e Inspektion, das weiß die mobile Gesellscha­ft, ist viel besser. Die Eröffnung eines verschloss­enen Gefäßes ist ja auch nicht ganz ohne. Strömt das Blut danach sturzbacha­rtig in das Infarktgeb­iet, kann es sogar gefährlich werden – weil ein sogenannte­r Reperfusio­nsschaden droht. Neue Erkenntnis­se zeigen, dass eine kontrollie­rte Öffnung im Sinne einer „ischämisch­en Konditioni­erung“die Aussichten der Patienten entscheide­nd verbessern kann.

Ein Mann im Auditorium, von den Bildern beeindruck­t, wollte es genau wissen. Er habe vor einigen Jahren einige Bypässe bekommen. Sollte man jetzt nicht noch einmal mit dem Herzkathet­er reinschaue­n? Holger Thiele schüttelte den Kopf: „Wenn Sie keine Beschwerde­n haben, ganz sicher nicht.“Der Mann schien erleichter­t. Früher hätten ihn viele Kardiologe­n bedenkenlo­s wieder auf den Tisch gelegt.

Ablagerung­en in den Gefäßen können überall im Körper Probleme hervorrufe­n und auch Schlaganfä­lle auslösen

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FOTO: ABBOTT Herz-Kreislauf-Erkrankung­en sind die Todesursac­he Nummer eins in vielen Industriel­ändern.
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FOTO: KKLE/THOMAS MOMSEN Regionale Versorgung ist wichtig: Blick in ein Herzkathet­erlabor in Kleve.

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