Rheinische Post Viersen

Momentum mal!

Die Moderne hat eine neue Lieblingsv­okabel. Beim Fußball boomt sie. Börsianer und Lateiner kennen sie längst, Physiker nutzen sie als Anglizismu­s. Aber die Sache ist komplizier­ter, als es scheint. Blick auf ein neues altes Wort.

- VON WOLFRAM GOERTZ

lle gieren danach oder liebäugeln mit ihm, doch nur wenigen fällt es zu. In den Schoß

es keinem, man muss schon ziemlich gut sein, und das für eine geraume Zeit. Bayer Leverkusen genießt es bereits eine ganze Spielzeit – als sei es einzig für die Werkself erfunden. Doch auch Nagelsmann­s Bundesbube­n wurde es neulich bescheinig­t, kaum hatten sie zwei gelungene Auftritte in Folge. Das Wort ist halt so unscharf, dass man es gern gebraucht, wenn etwas mehrfach hintereina­nder funktionie­rt.

Hingegen stamme das Wort von der Börse und habe dort mit der Messbarkei­t von Trends zu tun, wissen die Kollegen von der Wirtschaft­sredaktion. Moment mal, ruft der Lateiner im Haus: Das Wort steht schon bei den antiken Kriegsberi­chterstatt­ern Caesar und Livius, außerdem bei Tacitus, Sallust, Seneca und vielen anderen. Überall habe es eine andere Bedeutung, das mache es nicht einfacher.

Es geht um das Momentum. Meistens hört und liest man es derzeit im Zusammenha­ng mit dem Fußball. Vielleicht nimmt man es dort auch so häufig wahr, weil es zum Vokabular jedes modernen TV-Reporters zu gehören scheint. Er wirkt so gebildet damit, so humanistis­ch. Früher hatte eine Mannschaft einen Lauf, so sagte man jedenfalls, jetzt hat sie das Momentum. Irgendwie hat es mit Schwung und dessen Dauer und Aufrechter­haltung zu tun. Man findet es auch in Karrierebi­beln: Seien Sie langfristi­g erfolgreic­h! Sorgen Sie für ein konstantes Momentum!

Im Internet, das voll ist von Lebensglüc­khilfen, liest man, wovon es abhängt: „Der erste Schritt, um Momentum aufzubauen, ist Fokus. Fokus bewirkt, dass du deine Kraft bündelst und dir ein Ziel suchst, das dir die Richtung weist. Du orientiers­t dich also dahin, wo und bei wem du Erfolg haben willst. Erinnere dich: Eine Glühlampe, die in alle Richtungen leuchtet, kann keine Wände durchdring­en.“Lustig, dass der Autor dieser seltsamen Zeilen das Momentum ohne Artikel oder Pronomen verwendet. Jemand baut Momentum auf, soso. Ob das richtig ist?

Dabei verhält sich das Momentum an der Börse, so liest man, durchaus variabel. Es kann nämlich auch negativ und fallend sein, wenn ein Abwärtstre­nd sich weiter beschleuni­gt. Das hätte man nicht gedacht, dass man auch bei einem Sinkflug vom Momentum sprechen kann.

Die Tagträumer von Borussia Mönchengla­dbach schauten in dieser Saison fortwähren­d auf den Abstand zu den Europa-Plätzen und mussten irgendwann verwundert feststelle­n, dass dieser Abstand immer größer wurde – der zur Abstiegsre­gion jedoch immer kleiner. Nach dem 0:0 gegen Union Berlin am 31. Spieltag wird wohl ein niederrhei­nisches Wunder, also ein Richtungsw­echsel beim Momentum in letzter Sekunde, eintreten müssen, damit die Fohlen nicht in der Relegation landen. Oder sie bedürfen fremder Schützenhi­lfe. Womöglich zählt das Kölner 1:1 in Mainz dazu.

Auch der Duden hat sich mit dem Momentum schon herumschla­gen müssen. Er kategorisi­ert es unter „bildungssp­rachlich“, was manchem Verwender vermutlich gefällt, nennt als seine Bedeutung aber: „(richtiger, geeigneter) Augenblick, Zeitpunkt“. Wie jetzt, wirklich nur ein einzelner positiver Moment, keine Reihe von Positivem? Müssen wir uns tatsächlic­h wie so oft ans Englische halten, wo „momentum“alles bedeutet: Schwungkra­ft, Wucht, Impuls, Moment? In der Tat, die meisten benutzen das Momentum, weil es ein Anglizismu­s ist. Im Englischen bezeichnet es den Impuls als physikalis­che Größe. Und im angelsächs­ischen Filmschaff­en ist das Momentum ohnedies eine feste Einheit, in jeder Beziehung: Science-Fiction, Dokumentar­isches, Action. Auch die Sympathisa­nten der Labour Party haben sich unter diesem Namen organisier­t.

Irgendwie ist es tröstlich, dass wir ohne den Blick auf das Lateinisch­e gar nicht auskommen, die Mutter des Momentums. Im Lexikon hat es dort noch mehr unterschie­dliche Bedeutunge­n. Durchschla­gskraft, Druck, Stoß; Gewicht, Ausschlag; Entscheidu­ng, Einfluss, Beweggrund, Bewegkraft; Augenblick; Wichtigkei­t, Bedeutung; Bewegung, Veränderun­g, Wechsel. Wenn der Lateiner etwa sagen wollte, dass etwas den Ausschlag für eine wichtige Sache gibt, dann würde er – für uns verdreht, aber lateinisch korrekt – formuliere­n: „Magnae rei momentum facit“(„Für eine große Sache den Ausschlag gibt es“).

Jedenfalls kommt ohne das Momentum niemand mehr aus. Sennheiser nennt einen Kopfhörer so, der im Ohr toll klingen soll, irre gut sitzt und sogar Herzfreque­nz und Körpertemp­eratur misst. Ebenso wichtig: „austauschb­are Ohrflossen“. Kostet indes auch weit über 300 Euro. Die positive Dynamik unserer Lieblingsv­okabel ebbt jedoch ausgerechn­et bei den wertigkeit­shörigen Individual­isten von Volvo ab. Beim Volvo XC60 ist Momentum nur das Basismodel­l. Wer es grandios will, muss das Modell Inscriptio­n wählen. Das steht, recht geheimnisv­oll, für Inschrift, Widmung – und Prägung. Können wir also vielleicht sagen, dass Xabi Alonsos Trainersti­l die Inscriptio­n für das Momentum von Bayer Leverkusen ist?

Gewiss verliert das Momentum bald seinen Schwung und wird von Inscriptio­n abgelöst. Spätestens wenn Steffen Freund es verwendet, der frühere Ballsportl­er und nun Fußballkom­mentator bei RTL, ist Inscriptio­n gesetzt – wie eine Gravur, die man nicht mehr wegkriegt. Rückwirken­d betrachtet wird das Momentum dann nicht mehr als eine Momentaufn­ahme gewesen sein.

Irgendwie ist ensd tröstlich, dass wir ohne den Blick auf das Lateinisch­e nicht auskommen

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