Momentum mal!
Die Moderne hat eine neue Lieblingsvokabel. Beim Fußball boomt sie. Börsianer und Lateiner kennen sie längst, Physiker nutzen sie als Anglizismus. Aber die Sache ist komplizierter, als es scheint. Blick auf ein neues altes Wort.
lle gieren danach oder liebäugeln mit ihm, doch nur wenigen fällt es zu. In den Schoß
es keinem, man muss schon ziemlich gut sein, und das für eine geraume Zeit. Bayer Leverkusen genießt es bereits eine ganze Spielzeit – als sei es einzig für die Werkself erfunden. Doch auch Nagelsmanns Bundesbuben wurde es neulich bescheinigt, kaum hatten sie zwei gelungene Auftritte in Folge. Das Wort ist halt so unscharf, dass man es gern gebraucht, wenn etwas mehrfach hintereinander funktioniert.
Hingegen stamme das Wort von der Börse und habe dort mit der Messbarkeit von Trends zu tun, wissen die Kollegen von der Wirtschaftsredaktion. Moment mal, ruft der Lateiner im Haus: Das Wort steht schon bei den antiken Kriegsberichterstattern Caesar und Livius, außerdem bei Tacitus, Sallust, Seneca und vielen anderen. Überall habe es eine andere Bedeutung, das mache es nicht einfacher.
Es geht um das Momentum. Meistens hört und liest man es derzeit im Zusammenhang mit dem Fußball. Vielleicht nimmt man es dort auch so häufig wahr, weil es zum Vokabular jedes modernen TV-Reporters zu gehören scheint. Er wirkt so gebildet damit, so humanistisch. Früher hatte eine Mannschaft einen Lauf, so sagte man jedenfalls, jetzt hat sie das Momentum. Irgendwie hat es mit Schwung und dessen Dauer und Aufrechterhaltung zu tun. Man findet es auch in Karrierebibeln: Seien Sie langfristig erfolgreich! Sorgen Sie für ein konstantes Momentum!
Im Internet, das voll ist von Lebensglückhilfen, liest man, wovon es abhängt: „Der erste Schritt, um Momentum aufzubauen, ist Fokus. Fokus bewirkt, dass du deine Kraft bündelst und dir ein Ziel suchst, das dir die Richtung weist. Du orientierst dich also dahin, wo und bei wem du Erfolg haben willst. Erinnere dich: Eine Glühlampe, die in alle Richtungen leuchtet, kann keine Wände durchdringen.“Lustig, dass der Autor dieser seltsamen Zeilen das Momentum ohne Artikel oder Pronomen verwendet. Jemand baut Momentum auf, soso. Ob das richtig ist?
Dabei verhält sich das Momentum an der Börse, so liest man, durchaus variabel. Es kann nämlich auch negativ und fallend sein, wenn ein Abwärtstrend sich weiter beschleunigt. Das hätte man nicht gedacht, dass man auch bei einem Sinkflug vom Momentum sprechen kann.
Die Tagträumer von Borussia Mönchengladbach schauten in dieser Saison fortwährend auf den Abstand zu den Europa-Plätzen und mussten irgendwann verwundert feststellen, dass dieser Abstand immer größer wurde – der zur Abstiegsregion jedoch immer kleiner. Nach dem 0:0 gegen Union Berlin am 31. Spieltag wird wohl ein niederrheinisches Wunder, also ein Richtungswechsel beim Momentum in letzter Sekunde, eintreten müssen, damit die Fohlen nicht in der Relegation landen. Oder sie bedürfen fremder Schützenhilfe. Womöglich zählt das Kölner 1:1 in Mainz dazu.
Auch der Duden hat sich mit dem Momentum schon herumschlagen müssen. Er kategorisiert es unter „bildungssprachlich“, was manchem Verwender vermutlich gefällt, nennt als seine Bedeutung aber: „(richtiger, geeigneter) Augenblick, Zeitpunkt“. Wie jetzt, wirklich nur ein einzelner positiver Moment, keine Reihe von Positivem? Müssen wir uns tatsächlich wie so oft ans Englische halten, wo „momentum“alles bedeutet: Schwungkraft, Wucht, Impuls, Moment? In der Tat, die meisten benutzen das Momentum, weil es ein Anglizismus ist. Im Englischen bezeichnet es den Impuls als physikalische Größe. Und im angelsächsischen Filmschaffen ist das Momentum ohnedies eine feste Einheit, in jeder Beziehung: Science-Fiction, Dokumentarisches, Action. Auch die Sympathisanten der Labour Party haben sich unter diesem Namen organisiert.
Irgendwie ist es tröstlich, dass wir ohne den Blick auf das Lateinische gar nicht auskommen, die Mutter des Momentums. Im Lexikon hat es dort noch mehr unterschiedliche Bedeutungen. Durchschlagskraft, Druck, Stoß; Gewicht, Ausschlag; Entscheidung, Einfluss, Beweggrund, Bewegkraft; Augenblick; Wichtigkeit, Bedeutung; Bewegung, Veränderung, Wechsel. Wenn der Lateiner etwa sagen wollte, dass etwas den Ausschlag für eine wichtige Sache gibt, dann würde er – für uns verdreht, aber lateinisch korrekt – formulieren: „Magnae rei momentum facit“(„Für eine große Sache den Ausschlag gibt es“).
Jedenfalls kommt ohne das Momentum niemand mehr aus. Sennheiser nennt einen Kopfhörer so, der im Ohr toll klingen soll, irre gut sitzt und sogar Herzfrequenz und Körpertemperatur misst. Ebenso wichtig: „austauschbare Ohrflossen“. Kostet indes auch weit über 300 Euro. Die positive Dynamik unserer Lieblingsvokabel ebbt jedoch ausgerechnet bei den wertigkeitshörigen Individualisten von Volvo ab. Beim Volvo XC60 ist Momentum nur das Basismodell. Wer es grandios will, muss das Modell Inscription wählen. Das steht, recht geheimnisvoll, für Inschrift, Widmung – und Prägung. Können wir also vielleicht sagen, dass Xabi Alonsos Trainerstil die Inscription für das Momentum von Bayer Leverkusen ist?
Gewiss verliert das Momentum bald seinen Schwung und wird von Inscription abgelöst. Spätestens wenn Steffen Freund es verwendet, der frühere Ballsportler und nun Fußballkommentator bei RTL, ist Inscription gesetzt – wie eine Gravur, die man nicht mehr wegkriegt. Rückwirkend betrachtet wird das Momentum dann nicht mehr als eine Momentaufnahme gewesen sein.
Irgendwie ist ensd tröstlich, dass wir ohne den Blick auf das Lateinische nicht auskommen