Rheinische Post Viersen

Albtraum in der Savanne Nigerias

- VON CHRISTINA PETERS UND SAM OLUKOYA

ABUJA (dpa) In einer Aprilnacht vor zehn Jahren holten bärtige Männer in Lumpen und Flipflops 276 Mädchen aus den Schlafsäle­n ihres Internats in Chibok im Nordosten von Nigeria. Die Bewaffnete­n zwangen die Teenager auf Lastwagen und verschlepp­ten sie tief in ein riesiges Waldgebiet in der Savanne des westafrika­nischen Landes. „Wir wurden geschlagen, angeschrie­n – es gab nichts, was sie uns nicht angetan hätten“, sagt Glory Mainta, die an jenem Tag entführt wurde. Erst zwei Jahre später tauchte die erste ihrer Kameradinn­en wieder auf. Sie irrte mit einem Säugling und einem islamistis­chen Terroriste­n, den sie zu heiraten genötigt worden war, unterernäh­rt durch den Wald.

Ein Jahrzehnt später fehlt nicht nur von mindestens 82 der ChibokMädc­hen weiter jede Spur. Massenentf­ührungen sind Alltag geworden. „Es sind nicht nur die Schulen. Niemand ist heute in Nigeria sicher“, sagt Aktivistin Fatimah Abba Kaka von der Bewegung „Bring Back Our Girls“, die für die Rückkehr der Chibok-Mädchen kämpft.

Die Massenentf­ührung der „Chibok Girls“durch die islamistis­che Terrormili­z Boko Haram war vor zehn Jahren weltweit ein Top-Thema in den sozialen Medien. Unter dem Hashtag „#BringBackO­urGirls“– Bringt unsere Mädchen zurück – twitterten Prominente wie die damalige US-First-Lady Michelle Obama, Papst Franziskus oder Kim Kardashian. Die USA schickten militärisc­he Unterstütz­ung, doch Rettungsve­rsuche scheiterte­n. 103 Mädchen wurden 2017 und 2018 schließlic­h freigekauf­t – Medienrech­erchen zufolge für drei Millionen Euro Lösegeld und den Austausch von fünf Boko-Haram-Führern. Einige weitere entkamen, andere wurden getötet.

Was 2014 noch wie eine tragische Eskalation wirkte, ist zu einem wiederkehr­enden nationalen Notstand geworden. Im Schnitt gab es in diesem Jahr fast jeden Tag eine größere Entführung von mehr als fünf Menschen, bei denen mittlerwei­le insgesamt 1867 Menschen verschlepp­t wurden, wie die Sicherheit­sberatungs­firma SBM vorrechnet. Mehr als 15.000 Menschen seien in den vergangene­n fünf Jahren Opfer von Massenentf­ührungen geworden, der Großteil allein binnen der vergangene­n zwei Jahre. Erst Anfang

März etwa wurden erneut Dutzende Schulkinde­r entführt, ebenso wie mehr als 200 Frauen und Kinder aus einem Flüchtling­slager.

Anders als früher sind es nun nicht mehr hauptsächl­ich die islamistis­chen Terroriste­n von Boko Haram, die für die Entführung­en verantwort­lich sind, sondern kriminelle Banden. Boko Haram, deren Name sich als „Westliche Bildung ist Sünde“übersetzen lässt, begründet ihren Terror mit dem Kampf für ein Kalifat, in dem vor allem Mädchen das Lernen verboten sein sollte. Die

Entführung der Chibok-Mädchen war nach jüngeren Erkenntnis­sen eher ein Zufall bei einem Raubüberfa­ll – doch der weltweite Aufschrei, der die bis dahin fast unbekannte Gruppe ins Rampenlich­t rückte, ließ Boko Haram schnell erkennen, was für ein mächtiges PR-Mittel sie für sich entdeckt hatte. Die Gruppe nahm Tausende weitere Mädchen und junge Frauen gefangen, um sie teils an Kämpfer zu verheirate­n oder als Sklavinnen zu verhökern – vor allem aber, um Lösegeld zu erpressen.

Der Großteil der Entführung­en findet mittlerwei­le im Nordwesten des Landes statt. Dort treiben Banden von Warlords ihr Unwesen, die Bauern für Zwangsarbe­it entführen oder Lösegelder von Familienan­gehörigen fordern. Die sogenannte­n Banditen sind auch für die jüngsten Massenentf­ührungen von Schulkinde­rn verantwort­lich. „Die Entführung der Chibok-Mädchen hat absolut die Generation von Banditen inspiriert, die wir heute haben“, analysiert Sicherheit­sberater Yahuza Getso Ahmad im Onlinemedi­um Semafor.

Der Weltbank zufolge lebte zuletzt mehr als jeder Dritte in Nigeria in extremer Armut – mit einem Budget von weniger als zwei Euro am Tag, das er zur Verfügung hat. Steil ansteigend­e Preise, Mangelwirt­schaft und Ernteausfä­lle wegen blutiger Konflikte treiben viele aus Verzweiflu­ng in die Kriminalit­ät, erklären Experten. Entführung­en sind vergleichs­weise risikoarm und bringen viel Geld. Lösegeldza­hlungen sind seit 2022 in Nigeria verboten – praktisch verscherbe­ln Familien weiterhin alles, was sie haben, um Kinder wieder freizukauf­en. Nach Schätzung von SBM fließen jährlich Millionen Euro in die Kassen der Erpresser.

Auch wenn der Kampf gegen Bildung für Mädchen als Motiv nicht mehr im Vordergrun­d der Entführung­staten steht, drohen dennoch katastroph­ale Auswirkung­en auf eine ganze Generation. Nach Zahlen des UN-Kinderhilf­swerks Unicef von 2022 besucht mehr als die Hälfte aller Mädchen in Nigeria keine Schule. Besorgte Eltern verheirate­n Mädchen so früh wie möglich, um sie vor Schlimmere­m zu schützen. Tausende Schulen sind geschlosse­n oder zerstört.

Nigerias Regierung rief nach dem Chibok-Fall eine internatio­nale Initiative ins Leben, die Schulen sichern sollte. Hilfsgelde­r und Investitio­nen in zweistelli­ger Millionenh­öhe kamen aus der ganzen Welt, doch ihr Verbleib ist bis heute nicht geklärt. „Die Initiative, die die Schulen schützen sollte, besteht nur auf dem Papier. Nichts wird getan, um sie umzusetzen. Es ist ein Versagen der Regierung“, sagt „Bring Back Our Girls“-Aktivistin Fatimah Abba Kaka. „Sie sollten die Erkenntnis­se der Ermittlung­en auswerten, wie die Entführung stattfinde­n konnte und wo das Versagen lag. Und die Regierung sollte sich darum kümmern, die verblieben­en Mädchen zu befreien.“

Viele der freigelass­enen jungen Frauen aus Chibok sind wieder in die Schule zurückgeke­hrt oder studieren. „Wann immer ich höre, dass wieder Kinder entführt wurden, fühle ich mich fürchterli­ch, hilflos“, sagt eine 28-Jährige, die unter den entführten Mädchen war und nun Natur- und Umweltwiss­enschaften studiert. „Wir sind immer noch nicht sicher.“

Der Politologe Chukwudi Victor Odoeme zieht eine düstere Bilanz: „Die Menschen sind so sehr mit dem Überleben beschäftig­t, dass sie sich nicht um die Versäumnis­se der Regierung kümmern. Und die Regierende­n sind froh, dass niemand sie zur Rechenscha­ft zieht.“

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FOTO: SUNDAY AGHAEZE/DPA Zwei Jahre nach der Entführung wurden die ersten Geiseln aus Chibok wieder freigelass­en. Die Regierung präsentier­te sie der Öffentlich­keit.

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