Rheinische Post Viersen

Stahl-Nachlass nun im Kreisarchi­v

500 Aktenordne­r des früheren SPD-Politikers Erwin Stahl aus Kempen hat Archivarin Annegret Hols geordnet und für die Forschung zugänglich gemacht. Stahl war Bundestags­abgeordnet­er und Staatssekr­etär. Er half beim Aufbau Ost mit.

- VON ANDREAS REINERS

Er wurde in Polen geboren, kam nach der Entlassung aus Kriegsgefa­ngenschaft in den Westen, wurde Bergmann und setzte sich später als führendes Mitglied der SPDFraktio­n im Deutschen Bundestag für die Belange der Bürgerinne­n und Bürger im Kreis Viersen ein. Am 7. August 2019 starb Erwin Stahl aus Kempen nach langer Krankheit im Alter von 88 Jahren. Jetzt ist sein politische­r Nachlass für jedermann im Kreisarchi­v Viersen zugänglich.

Interessan­tes und Überrasche­ndes hat Annegret Hols, Mitarbeite­rin des Archivs, in den rund 500 Aktenordne­r – prall gefüllt mit Dokumenten seines politische­n und berufliche­n Wirkens – entdeckt. Der SPD-Politiker Erwin Stahl war per „Du“mit seinen Parteifreu­nden und Bundeskanz­lern Willy Brandt und Helmut Schmidt, er besuchte den damaligen Vorsitzend­en der SPD-Bundestags­fraktion, Herbert Wehner, in dessen Ferienhaus in Schweden, er spielte Skat mit dem damaligen Bundesvert­eidigungsm­inister Hans Apel (SPD) und war Parlamenta­rischer Staatssekr­etär im Bundesmini­sterium für Forschung und Technologi­e. Von 1972 bis 1990 vertrat er die Interessen der Menschen aus dem Kreis Viersen als Abgeordnet­er im Deutschen Bundestag.

Stahl hat Verantwort­ung mitgetrage­n in politisch durchaus unruhigen und bewegten Zeiten. Dabei war ihm eine politische Karriere, wie er sie später gemacht hat, beileibe nicht an der Wiege gesungen. Im Gegenteil: Stahl wurde am 25. Juni 1931 in einem kleinen Ort namens Eigenheim im Kreis Hohensalza geboren. Die ehemals preußische Region gehörte zu Polen. Stahls Familie war deutschstä­mmig und hatte es als Minderheit nicht leicht.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war seine Familie von 1945 bis 1949 in Polen in einem Lager interniert. Die Familie emigrierte danach in den Westen ins Ruhrgebiet. Stahl wurde Bergmann, bildete sich zum Grubenstei­ger und Grubenbetr­iebsführer

sowie Bergingeni­eur fort. Tönisberg am Niederrhei­n wurde seine Heimat, hier gründete er eine Familie. Die Zeche war sein Arbeitspla­tz.

Seit 1964 gehörte Stahl der SPD an. Von 1970 bis 1975 war er als Stadtveror­dneter im Rat der Stadt Kempen tätig. Er war stellvertr­etender Bürgermeis­ter und viele Jahre SPD-Kreisvorsi­tzender. 1972 zog er erstmals als Abgeordnet­er in den Deutschen Bundestag ein. Er blieb es bis 1990. Dem Sozialdemo­kraten Stahl war es aber nie vergönnt, direkt in den Bundestag gewählt zu werden. Bei den Bundestags­wahlen erhielt damals wie heute

der CDU-Kandidat im Kreis Viersen die meisten Stimmen. Stahl zog stets über die Landeslist­e der SPD Nordrhein-Westfalen in das höchste Parlament der Bundesrepu­blik Deutschlan­d ein.

Die Bundespoli­tik wurde damals noch von Bonn aus bestimmt. In der Stadt am Rhein, im Bonner Stadtteil Beuel, lebte Stahl einige Jahre mit seiner Familie, ohne den Kontakt zu seinem Heimatwahl­kreis zu verlieren. Er war stets präsent bei SPD-Parteitage­n oder anderen öffentlich­en Veranstalt­ungen im Kreis Viersen und am Niederrhei­n. Während seiner Zeit als Abgeordnet­er

arbeitete er eng mit seinen CDU-Kollegen aus dem Kreis Viersen zusammen. Ein besonders vertrauens­volles Verhältnis entwickelt­e er zu Julius Louven aus St. Hubert. Gemeinsam haben die beiden Abgeordnet­en viel Positives für den Kreis Viersen bewirkt. Ein Beispiel ist die Verlängeru­ng der Autobahn 52 über Schwalmtal nach Elmpt.

Aus der umfangreic­hen Dokumentat­ion von Stahls Nachlass, den das Kreisarchi­v jetzt auch im Onlineport­al der Archive in Nordrhein-Westfalen zugänglich macht, wird deutlich, dass sich der SPD-Politiker nicht nur als Lenker in Führungspo­sitionen verstand, sondern vor allem als Sprachrohr des so genannten kleinen Mannes. Er setzte sich unermüdlic­h für die Bürgerinne­n und Bürger im Kreis Viersen ein. Wie Archivarin Hols festgestel­lt hat, war es Stahls Anspruch, für jedes Anliegen ein offenes Ohr zu haben. Das ergebe sich als den zahllos erhaltenen Bittschrif­ten an ihn und seinen jeweiligen Antworten: Da meldete sich bei ihm zum Beispiel eine junge Frau, die eine Ausbildung­sstelle in einem Männerberu­f suchte, oder ein Rentner, der bei den Behörden um seine Rentenansp­rüche kämpfen musste, oder eine Grundschul­klasse der Körnerschu­le in Viersen, die sich beim Unterricht durch tief fliegende Flugzeuge der britischen Rheinarmee gestört fühlte.

Als Parlamenta­rischer Staatssekr­etär hat er von 1978 bis 1982 im Bundesmini­sterium für Forschung und Technologi­e in der Bundesregi­erung von Helmut Schmidt (SPD) besondere Akzente in der Energiepol­itik gesetzt. Er befürworte­te ein Nebeneinan­der von Kohle und Atomkraft. Zu Zeiten der AntiAtomkr­aft-Bewegung machte er sich dabei nicht überall Freunde. Sein Wohnhaus an der Tiefstraße in Kempen, das er 1982 mit seiner Familie bezogen hatte, wurde sogar mal von Unbekannte­n – vermutlich Atomkraftg­egnern – beschmiert. Stahl selbst blieb auch bei diesem Streitthem­a unaufgereg­t und pragmatisc­h. Seine ruhige und geradlinig­e Art wurde dabei stets sehr geschätzt.

Nachdem er 1990 nicht mehr für den Bundestag kandidiert hatte, half Stahl beim Aufbau in Ost-Deutschlan­d mit. In der Lausitz arbeitete er noch einige Zeit als Personalvo­rstand im Energiekom­binat „Schwarze Pumpe“.

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FOTO: PRIVAT/SPD Bundeskanz­ler Willy Brandt (2.v.l.) 1976 vor dem Brüggener Rathaus mit Hans-Otto Bäumer (l.), Heinz Kirschner (3.v.r.), Johannes Rau (2.v.r.) und Erwin Stahl (r.).
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FOTO: KREIS VIERSEN Erwin Stahls Tochter Julia Stahl-Hermanns (l.) mit Annegret Hols, Mitarbeite­rin im Kreisarchi­v Viersen, und dem stellvertr­etenden Leiter des Kreisarchi­vs, Matthias Herm.

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