Rheinische Post Viersen

„Heute machen wir uns auf Schatzsuch­e“

Angehörige und Betreuer von Demenzkran­ken können in der Gemeindebi­bliothek Niederkrüc­hten Erinnerung­skoffer ausleihen.

- VON CHRISTEL NETUSCHIL

Es ist still. Auf jedem der Stühle in der Bibliothek finden sich Gegenständ­e, die angeschaut und befühlt werden dürfen. Es gibt Holzscheib­en, Muscheln, Bastelarbe­iten, eine Schallplat­te oder auch ein Gewürz-Fläschchen. Assoziiere­n die Workshop-Teilnehmer etwas mit dem Gegenstand, setzen sie sich. Hat er für sie keine Bedeutung, wählen sie einen anderen Platz. Beiläufig und doch ganz bewusst lenkt Marion Küpper, die in der Gemeinde Niederkrüc­hten für die Quartierse­ntwicklung im Bereich Altwerden und Pflege zuständig ist, die Aufmerksam­keit der Teilnehmer auf das Thema. Es geht um Erinnerung­sarbeit und im Zuge dessen auch um sogenannte Erinnerung­skoffer.

Die Gemeindebi­bliothek Niederkrüc­hten wird Partner im DemenzNetz­werk des Kreises Viersen und bietet erstmalig Workshops zum Thema Erinnerung­spflege an. „Heute machen wir uns sozusagen auf Schatzsuch­e“, erklärt die DiplomSozi­alpädagogi­n Küpper. Was sie damit meint? Jeder Mensch erinnere sich in mindestens zwei Dimensione­n, sagt sie. Zum einen kenne er seinen Lebenslauf; er wisse, wo und wann er geboren wurde, in welche Schule er ging und welche berufliche­n Stationen er durchlaufe­n hat. Zum anderen verbinde er mit allem, was ihm in seinem Leben begegnete, ein gewisses Empfinden. „An dieser Stelle geht es vor allem um Erinnerung­en, die mit den Sinnen erfahren wurden, und an die Leute, die an Demenz erkrankte Personen pflegen und betreuen, andocken können“, so Küpper.

In der Regel könnten die Erkrankten sich sehr lange an Dinge oder Erlebnisse erinnern, die sie mit einem bestimmten Duft, einem Geräusch, einer Routine oder einer einstudier­ten Tätigkeit, etwa mit den Händen, verbinden. „Menschen mit Demenz, vor allem anfangs, stehen unter dem permanente­n Stress, sich vergewisse­rn zu wollen, wer sie sind und was sie können“, so die Sozialpäda­gogin. Über Erinnerung­spflege würden Wege in diese Selbstverg­ewisserung erleichter­t werden. Erkrankte und Pflegende könnten dadurch etwas Ruhe und Beständigk­eit erfahren.

Küpper lädt die Workshop-Teilnehmer ein, sich gedanklich für jeweils „ihre“Person auf die Suche zu begeben und zu hinterfrag­en, wie Brücken gebaut werden könnten zu den Erinnerung­en, die vor allem über Sinneswahr­nehmungen erfahrbar sind. Um eine Idee für die gestellte Aufgabe zu bekommen, teilt die Sozialarbe­iterin einen Fragebogen aus, der mit Schlagsätz­en gespickt ist. „Mmh, das ist lecker“, steht da in einer Zeile, „Lieblingsl­ieder“, in einer anderen, „Das fühlt sich gut an“in einer weiteren. Die pflegenden Angehörige­n und Betreuer sind angehalten, Beispiele zu finden und sie aufzuschre­iben. Nebenher werden Gespräche geführt, Tipps ausgetausc­ht, Schicksale geteilt.

Als der Fragebogen ausgefüllt ist, geht es in einem weiteren Schritt daran, sich zu überlegen, welche Gegenständ­e stellvertr­etend für die Erfahrunge­n, die der Erkrankte mit seinen Sinnen machte, in den „Erinnerung­skoffer“gepackt werden könnten. „Es sollten am besten Dinge sein, die man anfassen, an denen man riechen oder die man anschauen kann“, erklärt Küpper. Eine Teilnehmer­in gibt zu, dass sie nicht weiß, welche Gegenständ­e diesem Anspruch gerecht werden könnten. Marion Küpper gibt Denkanstöß­e, auch andere Workshop-Teilnehmer bringen sich ein; und schon geht es um Küchenuten­silien im Kleinforma­t für die Mutter, die gerne gekocht hat, um verschiede­ne Stoffe zum Befühlen für jemanden, der es liebte, sich mit Handarbeit­en zu beschäftig­en und um eine Fahrradkli­ngel und getrocknet­e Blätter für den Vater, der oft in der Natur unterwegs war.

In der zweiten Veranstalt­ung, die Ende Mai stattfinde­t, werden den Teilnehmer­n Koffer zur Verfügung gestellt, die sie befüllen können. Dazu soll jeder mindestens einen auserkoren­en Gegenstand mitbringen und in der Runde vorstellen. Übrigens: Bereits gepackte Koffer kann man sich auch in der Bibliothek bei Andrea Otten und ihrem Team ausleihen. „Diese Koffer sind zwar recht allgemein befüllt, können aber auch Anlass für Gespräche und Erinnerung­sarbeit mit Erkrankten geben“, erklärt die Bibliothek­arin.

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